Elegie eines missratenen Zwerges
Wenn ich den emsigen Ahnenforschungen meines Vaters Glauben schenken darf, der freilich nur ein kleiner jüdischer Pedanteriewarenhändler aus Berlin-Rixdorf war, welcher sich gleichermaßen vorbeugend wie rückwirkend 1932 kurzerhand selbst arisierte, dann stamme ich von einer seinerzeit hochberühmten Dynastie von Hofzwergen und Unterhaltungskrüppeln ab; in letzter Linie geht die Sprossenleiter unserer Vorfahren vielleicht sogar auf Signore Braccio di Bartolo gen. Nano Morgante zurück, den Hofzwerg Herzog Cosimos I. von Medici, dessen (des Zwerges!) Angedenken freilich durch einen gemalten Doppelakt aus dem Pinsel des vermaledeiten Dreckskerls und Barock-Schmierfinken Giovanni Bologna einen übel despektierlichen haut goût empfing, den ich heute, mit 400 Jahren Abstand, schon noch immer als schmerzhaft diskriminierend empfinde.
Derzeit gilt ja Herkunft nur noch wenig, Zukunft allein – die Zukunft, die man sich erhofft, einmal zu haben! – ist alles. Heutige Kinder, sei es durch bloße Fahrlässigkeit, sei es durch Mutwillen in die Welt gesetzt, kranken durchweg an Indolenz und überbordendem Narzissmus, sie ehren ihre Erzeuger nicht und schon gar nicht die ehrwürdigen altvorderen Unterhaltungskrüppel!
Meine hohe Abkunft, das gestehe ich, bedrückt mich oft nicht wenig, denn ich bin ein missratener Spross: Wohl an die sechseinhalb Fuß hoch, in der Schulter anderthalb Klafter breit – und mein Korpus enthält, um ein altes Maß für Flüssigkeiten zu beleben, ca. viereinhalb Hosen Wasser, wobei die Gattin, mir beim Schreiben über die Schultern schauend, spitz einwirft, ob es bloß Wasser sei, dürfe man ja wohl mit Fug noch bezweifeln. Gleichviel, für einen ansehnlichen Zwerg ist mein Volumen beschämend, ja indiskutabel, denn von einem Zwerg mit dem Umfang des Heidelberger Weinfasses ist eine ordnungsgemäße Erfüllung der Dienstpflicht füglich nicht zu erwarten. Mein obig erwähnter – und durchaus etwas würstchenhafter – Vater wäre im Zweifelsfalle mit seinen knapp Eins-siebzich eventuell noch als „Riesenzwerg“ (Gisela Elsner) durchgegangen, dank seiner als Arisierung getarnten Selbstverkleinerung, ich aber stehe durch meine monströse Verunstaltung dem professionellen Zwergentum nur noch als Zaungast gegenüber bzw. nicht mal gegenüber, sondern bloß so seitlich am Rande, und ich bin schlicht nicht imstande, die Familientradition fortzusetzen. Was mich tröstet (aber ist das ein Trost?): die Nachfrage nach Hofzwergen hat in der Gegenwart auf furchterregende Weise nachgelassen.
„Königliche“ (Ha!) Höfe wie der in Monaco, Belgien, Tonga, England oder Dings, Dänemark, sind dermaßen verpöbelt und verbürgerlicht, dass sie heute glauben, sie könnten gänzlich ohne Zwerge auskommen! Wie dumm, denn Könige ohne kompensatorische Zwerge sind ja selber welche! – Dergestalt aber gebricht nun meine Existenz ihres Ziels: Nicht gebraucht, aber auch ohnehin nicht geeignet, zu groß, zu dick, zu ungeschlacht, ein Trumm und zoologisches Monstrum, eine Art Tumor oder ontologischer Pickel, will sagen eine nutzlose Wucherung des Seins! Dabei bin ich charakterlich doch ein wahrer Hofzwergenspross: Ich darf an dieser Stelle mich höflich durch hoch trainierte Verschlagenheit, ferner durch approbierten Unernst, unbändige Spottlust und herausragende Bosheit empfehlen, den Tugenden meines Stammes, der freilich durch den jüdisch-polnisch-italiänisch-germanisch-moriskischen Genpool zu überraschenden Mutationen bereit und übermäßig in der Lage ist. Denjenigen Menschen, denen meine Probleme fremd bleiben, darf ich wenigstens so viel verraten: Aussterben ist keine Lebensperspektive!
Mein Leben lang erstrebte ich, ein Unikat zu werden, nur um am Ende festzustellen: Als vermeintlich splendide Singularität führt man ein einsames, unverstandenes und selten belobigtes Dasein. Ein zu groß und dick geratener Zwerg stellt keine Attraktion mehr da, er entbehrt des Sensationellen, und man glaubt ihm auch nicht: Meine Beteuerungen, ich sei im Grunde und der Abkunft nach eigentlich ein, wenn auch geistvoller, Minderwüchsiger, erntet nur Unglaube, ja, offenen Spott, Hohn und herzloses Gelächter. Ich erlaube mir huldvoll, dies als philosophische Einsicht zu präsentieren: Immer ist man, wie Alice, die dem weißen Kaninchen folgt, entweder zu klein oder zu groß. Dass man einmal so recht behaglich passt in den Zauber der Wirklichkeitstheatralik, bleibt eine dumme Sehnsucht, ein blasser Traum und, am Ende, eine törichte Narrheit des unbelehrten Begehrens. Unvergessen die Weisheit des armen Kaspar Hauser: „Ich möchte ein Reitersmann werden wie ein anderer auch!“ – Ja, das wäre ein Lebensplan! Zu spät nun, zu spät.
This entry was posted on 21. Mai 2012 at 11:42 PM and is filed under Aus dem Kulturbeutel älterer Jugendlicher, Philosopher's Corner. You can subscribe via RSS 2.0 feed to this post's comments.
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22. Mai 2012 um 6:35 AM
Ich habe zwar keine Zwerge, auch keine Hünen im Ahnenspiegel vorzuweisen, auch keinerlei Ambitionen auf irgendwelche Herkunftsinsignien. Dennoch! Wie Mutti mir mehrmals erklärte, hatte ihre Sippe einen Landadelstitel und immerhin ein Wappen, ein eigenes! Als ich jedoch meine Vermutung äusserte, dass diese Sippe wohl schon im Spätmittelalter durch Trinksucht und Inzucht verarmt sei, setzte es solche Prügel, dass ich mich erst am heutigen Tage wieder getraue, zu solch arischem Thema mich zu äussern.
Meine Aufwartung!
22. Mai 2012 um 10:55 PM
Durch Inzest und Trinksucht verarmt? Wie traurig….
22. Mai 2012 um 12:55 PM
Na, das Heidelberger Weinfaß war immerhin eines Zwergen Lebensgrundlage, sagt die Sage.
Ich kann da übrigens voll und ganz mitfühlen, wollte ich doch immer schon Mönch werden (und habe sicher auch den einen oder anderen im Stammbaum); aber ach, mit »ei, bisch du dann katholisch?!« ging’s los. Und das ist nur die geringste der Unzulänglichkeiten …
22. Mai 2012 um 10:56 PM
Ja, das kenne ich gut! Auch mich wies man als Mönch ab, wg. fehlender Katholizität. Jetzt bin ich Taoist, da ist man sein eigenes Kloster!
22. Mai 2012 um 1:32 PM
Wo ich das Bild sehe: dieser strategisch plazierte Schmetterling — hach!
22. Mai 2012 um 10:57 PM
Das hatte ich gar nicht gesehen – dass es ein Schmetterling ist! Wie hübsch, wie zartfühlend und federleicht dezent!
22. Mai 2012 um 6:36 PM
Ich kann hier nichts bewerten, denn die Dings, die Materie ist mir fremd.
22. Mai 2012 um 7:22 PM
Tief bedrückt & mitfühlend, grüßt als Scheinriese
der Überschriebene
22. Mai 2012 um 9:20 PM
Bester Magister!
Deine Klagen sind unbegründet und übertrieben. Denn „die Nachfrage nach Hofzwergen hat in der Gegenwart“ nur scheinbar nachgelassen; tatsächlich erlebt die Rückbesinnung auf das Kleinklein nicht nur in unseren alltäglichen Kaufgewohnheiten eine Renaissance: vor allem auf dem Arbeitsmarkt werden Menschen, ob zu klein oder zu größenwahnsinnig (was hier synonym verstanden werden kann), hoch gehandelt. Wenn ich mir Deinen Fall betrachte, würde ich ohne größere Argumentationsnot sofort multiple Vermittlungshemmnisse nennen können, die Eingliederungszuschüsse (hohe, große!) möglich machen: Migrationshintergund, Alkoholabusus, Adipositas, Spottlust und Querulantentum sind hier zu erwähnen, natürlich auch die verdrängte (sic!) Kleinwüchsigkeit und die daraus resultierende Persönlichkeitsstörung. Ich würde sagen, etwa 50 Prozent der Lohnkosten an den Arbeitgeber wären für zweieinhalb Wochen möglich. Vorstellbar wären Jobs wie Schuhpolierer, Hofkehrer, Fußmatte oder, aber nur, wenn NICHTS mehr geht als Schreib-Kraft …. nein, das ginge wirlich zu weit.
mb
(Vielen Dank, Kraska, für diesen ausgezeichneten Text!)
22. Mai 2012 um 10:59 PM
Multiple Vermittlungshemmnisse haben mein Leben bestimmt. So wurde ich Berufsphilosoph. Von allem Ahnung, aber zu nichts zu gebrauchen. Und ich kann noch nicht mal malen…
24. Mai 2012 um 9:40 PM
Lieber Kraska,
malen zu können, es tut mir leid, wäre ein weiteres Vermittlungshemmnis!
Sorry.
22. Mai 2012 um 9:21 PM
Nichts von derart ungewöhnlicher Form und Gestalt hat mir mein Vadder selig mitgegeben – nicht einmal seine dumbohaften Ohren, die er selbst als „Bahnwärtertafeln“ milde verspottet hat. Nichts, gar nichts ! Ich bin so schrecklich durchschnittlich…
22. Mai 2012 um 11:00 PM
Bei Durchschnittlichkeit hilft meiner Erfahrung nach nur entschlossene Selbstmystifikation! Die Welt muss romantisiert werden!
23. Mai 2012 um 6:34 AM
Auch ein probates Mittel: Abwertung anderer.
28. Mai 2012 um 10:46 PM
Sorry, ich habe eben eine fürchterliche Zwergenphobie. Wenn ich nur irgendwo nur von weitem einen Zwerg sehe, drehe ich total durch, andere Leute haben das mit Spinnen oder so… äh, ja.
29. Mai 2012 um 8:29 AM
Das ist ja schrecklich. Je weiter weg, desto schlimmer?
29. Mai 2012 um 10:00 AM
Ja schau mal, Lakritze, es ist so: Ich bin ja bereits total altersweitsichtig, gleichzeitig aber immer schon kurzsichtig, (nur aus Gründen wirksamer Mystifizierung lasse ich mich immer ohne Brille fotografieren.) Jetzt habe ich aber die Gleitsichtbrille verhaust, d. h. ich sehe nur noch in die Entfernung, was meiner Zwergenphobie sehr entgegenkommt.. Ich befürchte, dass ich mit derartigen Krankheitsbildern ein bedauerlicher Einzelfall bin, die Hoffnung auf therapeutische Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe ist also gering. Ohne Gleitsichtbrille reichts für mich nur noch für den Bibelspruch-Abreißkalender, Mt 7,1 war heute dran.
29. Mai 2012 um 6:54 PM
ff übrigens,verehrte Lakritze, ich war da etwas lässlich heute morgen. Hat ja direkte ophthalmologische Bezüge.
29. Mai 2012 um 11:50 PM
Und, sehr geehrte Lakritze, ich hoffe, ich habe hier wie anderswo die Dich bewegenden Fragen zufriedenstellend und abschließend beantwortet und halte das Thema hiermit für erledigt. Dein Interesse für Deine Mitmenschen ehrt Dich übrigens sehr…
30. Mai 2012 um 7:32 PM
Ach, erinnye, Interesse trägt aber nur so weit wie das Gedächtnis reicht, und mit dem ist es ohne das kleine orangene Erinnerungsdings nicht weit her … Ich will da lieber nicht drüber urteilen; weiß gerade nicht, ob das schon einen medizinischen Fachbegriff nach sich zieht.
Entschuldige die späte Reaktion.
30. Mai 2012 um 7:38 PM
Ehrlich gesagt Lakritze, für mich ist die Angelegenheit abgeschlossen, ich dachte, das sei relativ unmissverständlich gewesen. Falls Du noch irgendwo Emotionen abarbeiten musst, fühl Dich frei.
31. Mai 2012 um 9:49 AM
Emotionen? Ich überlege noch, ob eine Scheinriesenphobie günstiger ist als eine Riesenscheinphobie; die Wahrscheinlichkeit der Exposition ist in beiden Fällen ziemlich gering. Geringer jedenfalls als die, einem Zwerg zu begegnen; und dann sind ja alle ab einer gewissen Entfernung … nun ja.
Hab ich was Falsches geschrieben?
2. Juni 2012 um 9:44 AM
Genau das wollte ich mit meinem Brillenkommentar sagen, Lakritze, aber es ist anscheinend nicht verstanden worden, ist mir aber wirklich inzwischen egal, ich habs einfach satt, und zwar grundlegend. Und: ich habe und hatte hier im Netz genau EINE Eitelkeit und EINE Emotion, und die betrifft meine Texte, ich gehe davon aus, dass es 99,99999 % aller Blogger so geht. Wer glaubt, mich aus dem, was ich geschrieben habe, zu kennen und meine Person bewerten zu müssen, muss das eben tun.
2. Juni 2012 um 11:07 AM
Daß ich anscheinend etwas Falsches geschrieben habe, habe ich durchaus verstanden, aber was? Wo soll ich Deine Person bewertet haben? Ich find’s nicht, mit oder ohne Brille.
2. Juni 2012 um 11:18 AM
Lassen wir das einfach. Vielleicht versetzt Du dich mal umgekehrt in meine Lage …und ehrlich, ich habe keine Lust mehr, noch IRGENDWO irgendein Wort über irgendetwas zu verlieren, für mich ist hier und jetzt einiges beendet.
2. Juni 2012 um 11:24 AM
Also, so geht das jetzt aber auch nicht. Irgendwo steckt hier ein kapitales Mißverständnis, und ich wüßte gern, wo. Im Ernst: Wo habe ich Dich bewertet? Hier, in dieser Kommentarspalte? Glaub mir, nichts läge mir ferner; ich bin da eher übervorsichtig. Was war es denn nun?
2. Juni 2012 um 11:52 AM
Sorry, ich muss jetzt kochen, ich habe einen 85-jährigen mit terminaler Niereninsuffizienz an der Hacke, der auf sein Mittagessen wartet.