Differenz und Wiederholung
Manchmal muss ich zur Arbeit aus dem Haus und die Dinge bleiben unbeaufsichtigt daheim und beginnen ihr notorisch obskur-klandestines, tantrisches Treiben. Abgesehen von einer gewissen gespenstischen Vermehrungslust, die man ihnen aber als erwiesenem Naturtrieb kaum verübeln kann, auch wenn sie regelmäßig damit meinen Lebensraum beengen, sind sie mir nicht eigentlich feindlich gesonnen. Im Gegenteil, sie beobachten gewissenhaft, was ich tue und versuchen es dann schlecht und recht nachzuahmen, unbeholfen zwar und drollig tollpatschig, aber guten Willens. Offenbar folgen die Dinge dabei gewissen, nur ihnen begreiflichen Moden. Momentan ist bei ihnen das „Stapeln“ total angesagt.
Wie es zuging, mag der Leibhaftige wissen; wohl hatten sie vielleicht ein ums andre Mal einen Blick darauf erhascht, wie ich zu Studienzwecken vorübergehend ein Fuder oder Bäckerdutzend Folianten akkurat auf den Arbeitstisch türmte, um den dicken Haufen Weltwissen des weiteren dann ordentlich abzuarbeiten, was sie dann aber offenbar, wer blickt schon in die Seele der Dinge, anscheinend dermaßen amüsiert hatte, dass sie meine vermeintliche Hochstapelei als Anregung begriffen, sich nun ihrerseits beflissen und selbsttätig zu „stapeln“, wie es ihrer beschränkten, kindlichen Einbildungskraft frommte. Freilich lief ihnen, Dingen mangelt es gelegentlich an kognitiven Kompetenzen, das Unternehmen einigermaßen aus dem Ruder, dergestalt dass sie statt ordentlicher Stapel ein heilloses, wenn auch annähernd irgendwie schräg und prekär getürmtes Tohuwabohu anrichteten, das, als ich am späten Abend in meine Klause heimkehrte, unter dem plötzlich eingeschalteten Deckenlicht schamvoll erstarrte und mir ein Bild halb petrifizierten Verwüstungswerkes darbot.
Wie soll ich es zur Anschauung bringen? Vielleicht exemplarisch: Einer der Türme, ein dem pisanischen an statischer Bedenklichkeit weit überlegener Stapel, bestand etwa aus einigen Lagen frischer, schwarzer Unterwäsche, meinem Tagebuch von 1994, Nietzsches „Genealogie der Moral“, zwei Porzellantellern mit Überresten frugaler Abendmahlzeiten (Feta, Oliven, Zwiebelringe), darüber Gilles Deleuze’s schwer verdauliches, postmodern frivoles Werk „Differenz und Wiederholung“, das ich noch immer nicht kapiert habe, zwei nikotingebräunten Bänden der Euripideischen Tragödien, einem Psycho-Thriller von Nicci French, einigen CD-Jewelboxen mit Händel-Arien (ohne CDs) sowie dem neuesten Album von „Massive Attac“, bedacht von der vorletzten Ausgabe eines bekannten Hamburger Nachrichtenmagazins. Als Zwischenfundamente dienten diverse unbezahlte Rechnungen, eine voll wichtige, seit langem schmerzlich vermisste Versicherungspolice und der überflüssigerweise gefertigte Ausdruck einer drohenden salafistischen E-Mail, mein Wirken in der Welt betreffend und mir die sichere Hölle versprechend, sowie, den gesamten Sums notdürftig stabilisierend, ein nicht aufgegessenes Knäckebrot mit Dorschrogen-Creme von IKEA.
Mein Ohrensessel aus Rattan-Geflecht machte zu dieser Karikatur auf „Die Ordnung der Dinge“ (M. Foucault) ein betont dummes Gesicht, blicklos und glotzäugig zugleich; der Wäscheschrank kicherte breitmäulig debil und die Wäschetrommel im Bad schnappte betont beiläufig nach mir. „Dinge, mal hergehört!“ herrschte ich mein um mich versammeltes Ambiente an, „Ich bin Euer Herr! Ich bestimme!“ – Wer je unter dem respektlosen Gekicher unbotmäßiger Möbel einzuschlafen versuchte, weiß, was ich durchmachte! Nicht ernst genommen vom eigenen Hausrat! Den Stapel-Rackern!
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28. April 2012 um 1:46 PM
Ich dachte bisher, ich mache meine Unordnung noch immer selbst. Nach Lektüre dieses Artikels beschleichen mich Zweifel. Ich bin ja in handwerklichen Dingen eher ungeschickt – kann ich überhaupt ein so perfektes Durcheinander, wie in meiner Wohnung gerade herrscht, ganz alleine gemacht haben? Oder waren es auch bei mir die Dinge – vielleicht auf Befehl der Katze?
28. April 2012 um 1:55 PM
Nein, nein, den Dingen ist nicht zu trauen – sie machen, was sie wollen, wenn man nicht da ist!
28. April 2012 um 3:41 PM
Dank Deines aufklärerischen Artikels ließ sich nun auch bei uns der Tatbestand des freien Willens der Dinge ermitteln. Von uns in Alphatier-Manier befragt, gab eines nach dem anderen zu, heimlich den alten Videofilm „Staplerfahrer Klaus“ bei Chips und Käsewürfeln angeschaut zu haben. Eine völlig derangierte Marionette, die von sich behauptet, früher der Star von Kliklaklawitter gewesen zu sein, hatte sich dann wohl sofort auf den Weg zum Amt gemacht, wo man ihr, hinsichtlich ihres Behinderungsgrades, vom Vermittlungsbudget einen Staplerschein gewährte.
Man kann sie jetzt bei Ebay ersteigern.
Vielen Dank, Herr Magister!
28. April 2012 um 3:45 PM
Des Films erinnere ich mich dunkel. Ob Dinge einen freien Willen haben? Oder doch nur uns Menschen nachstümpern und -äffen? Hm. Vielleicht Nietzke fragen?
28. April 2012 um 4:08 PM
Wird gemacht!
28. April 2012 um 10:13 PM
Da hättest Du die Sächelchen (Bücher, CD-Hüllen und dergleichen sind keine DINGE, sondern Sachen i. S. d. § 90 BGB, manchmal auch vertretbare Sachen, § 91 BGB, wobei ein Teller mit Oliven- und Zwiebel-Resten gleich mehrere Sachen sind, ob vertretbar ist die Frage) mal zu einer innerbetrieblichen Weiterbildung schicken sollen, gibt es Vorträge über das Unheil der guten Absicht? Aber was will man von Zwiebelringen erwarten, sie wären gerne gut, sind aber trotzdem roh, die Verhältnisse sind eben so. Ein Augenbrauenhochzieh-Icon existiert glaube ich nicht, das könnte die Angelegenheit nämlich melismatisch, äh nein, mimisch untermalen.
28. April 2012 um 10:31 PM
🙂 Ich mache da mal noch einen Smiley hin, könnte ansonsten irgendwie dogmatisch wirken, das Sachenrecht. Rohes Gemüse ist eben schlecht.
28. April 2012 um 10:53 PM
Aber ist das eine JURIDISCHE Frage? Ich verweise auf Mastermind Heidegger, dem wir die Feststellung verdanken:
„…Der Krug west als Ding. Der Krug ist der Krug als ein Ding. Wie aber west das Ding? Das Ding dingt. Das Dingen versammelt. Es sammelt, das Geviert ereignend, dessen Weile in ein je Weiliges: in dieses, in jenes Ding…“
28. April 2012 um 11:58 PM
Wegen solcher Sätze werde ich wohl nie Heidegger lesen…
Bin lediglich aufs Sachenrecht gekommen, weil es eben bewegliche Sachen sind und nicht Dinge, Dinge sind so undefiniert, siehe das obige Zitat, und darüber hinaus sind es ja anscheinend allesamt ziemlich schulungsbedürftige Low-Brainer, da könnte man im Sinn eines Kaizen optimieren, oder aber gleich durch Entsorgung downsizen.
30. April 2012 um 9:03 AM
Das Problem der unordentlichen selbst wachsenden Stapel ist bekannt, tritt häufiger auf, als man denkt, wird jedoch gern verheimlicht oder versteckt. Manche versuchen, dem Treiben der Dinge mit Feng Shui oder Aufräumkursen beizukommen, ich bezweifle jedoch, dass das nicht hilft, wenn die Dinge einen Willen haben.
2. Mai 2012 um 6:41 PM
Bei Feng Shui ist die Grundidee, soweit ich weiß, erstmal eine Wagenladung Dinge wegzuschmeißen. Das nützt bestimmt; was nicht da ist, hat keinen Willen und kann kein Allotria treiben (es sei denn auf der Müllkippe, und da kommt es nicht so drauf an).
2. Mai 2012 um 8:10 PM
Leider, meine Dinge mögen kein Feng Shui. Sie bestellen immer D 17, mit einmal extra Reis.
4. Mai 2012 um 9:32 AM
Ich glaub, Deine Dinge und meine Dinge sind verwandt. Vor allem die in meinem Keller.