Albtraumatlanten
Ich besitze als Erbstück einen gediegenen, sommernachtsblauen Atlanten von 1905, in dem die Welt noch weiße Flecken der Unerschlossenheit enthält, vor allem in Schwarzafrika. Es handelt sich, obwohl er bescheiden unter dem Titel „Handatlas“ firmiert, um einen fast hundsgroßen, mit Goldprägung versehenen 40-Pfünder, über dem zu träumen einen massiven Ohrensessel und sehr starke Knie erfordert. Manchmal weiß man bei einem weißen Fleck auf der Karte nicht auf Anhieb, ob die entsprechende Gegend noch nicht erforscht oder bloß unbewohnt ist. Mich würde dies speziell für das Land Oklahoma interessieren, denn dorthin wanderten die Gebrüder Reinhold und Christoph H., meine Ur-Ur-Großonkel väterlicherseits, aus, und zwar aus Birnbaum, woher sie gebirtich; heute liegt das verträumte Örtchen an der Warthe-Schleife, um Juden und Deutsche sorgsam bereinigt, in der Woiwodschaft Wielkopolskie, Rzeczpospolita Polska, und heißt nun Międzychód. Damit aber genug der geographischen Pedanterien!
Meine beiden Ahnen sind, mangels Wildwesttauglichkeit, leider umgehend, kurz nach ihrer wohlbehaltenen Ankunft, in der Prärie verschollen. Verschollen, das ist übrigens 2. Partizip von „verschallen“, ein Wort, das längst nicht mehr erklingt. Es ist also seinerseits verschollen, das schöne Verb. Ich male mir gern aus, dass die auswanderlustigen Brüder von edelwilden Indianern der Marke Sioux massakriert wurden. Nicht dass ich ihnen das direkt gewünscht haben möchte, aber es wäre irgendwie romantisch und verliehe einem doch ein gewisses Flair, wenn man auf Partys, nachts in der weinseligen Küchenrunde, von einer Familiengeschichte zu erzählen wüsste, in der es von Tragischem und Exotischem wimmelt bzw. strotzt, z. B. von skalpierten Ur-Ur-Großonkeln väterlicherseits. Man wäre berechtigt, kurz und männlich beherrscht aufzuschluchzen, wonach einen möglicherweise Frau Frerkes an den wogenden Busen risse und einem mütterlich tröstend über den Kopf striche!
Wenn ich heute von der Lust überfallen würde, meinem Vaterland den Rücken zu kehren, fände ich Zuflucht auf den Hebriden, wo ich ein Stück Land besitze, einen Quadratmeter Schafsnasengrasnarbe in Küstennähe, eine Parzelle im Nirgendwo, die ich mal als Werbe-Gimmick drauf zu bekam, als ich im Internet eine Flasche sehr teuren schottischen Whiskys erstand. Er schmeckte ungeheuer authentisch nach verbranntem Torf, Salzwasser und Schafsexkrementen – ein Schluck, und man wähnte sich auf den sturmzerzausten Hebriden! Was man trinken muss, um da wieder wegzukommen, ist pauschalschriftlich nirgends erwähnt; man kann sich also ganz individuelle Trinkrouten ersinnen, zum Beispiel mit der MS Verpoorten nach Eierland, von dort den Rumgrogzug nach On-the-Rocks nehmen und dann gemütlich mit dem Riesling-Express wieder nach Hause in den Ohrensessel, wo man traumtrunken erwacht, um sich gnadenreich vage an erlittene Reise-Unbill zu erinnern.
Ein vierzigpfündiger, fast hundsgroßer Atlas eignet sich nicht zum Handgepäck, weswegen ich ohne ihn unlängst eine Traumreise in die Residenz Moers unternahm, um Fleisch und Hemden zu kaufen, ein Marktflecken, der in meinem Traum freilich nicht nur Ausmaße ungeheuerlichster Unübersichtlichkeit angenommen hatte und mit exaltiert Walt-Disney-haften Sakralbauten vollgestellt war, sondern auch einen labyrinthischen Grundriss besaß, so dass ich mein Fahrrad nicht mehr fand und den Weg verlor; unter anderem begegnete mir ein Mensch mit einem grässlichen, rosa-schleimig glitzernden Elefantenfuß, ferner, in einem Kinderwagen, ein Kopf ohne Körper, der jämmerlich vor sich hin greinte, sowie eine Menge durchweg freundlicher Einwohner, die mir den Weg erklärten, nur jeweils immer einen anderen. Wäre ich nicht vom dringlichen Dingdong der Türglocke erwacht, ich würde heute noch, die Hände voll rohem Fleisch und flatternden Hemden, in Moers herumirren.
Als ich jedoch nichtsahnend die Tür öffnete und davor meine beiden in karierte Reise-Plaids gehüllten Ur-Ur-Großonkel standen, mit blutüberströmten Schädeln und einem verlegenen Grinsen im Birnbaumer Bauerngesicht, da schwante mir freilich, der Traum sei noch nicht zu Ende, sondern drohe zum Alb auszuarten.
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Schlagwörter: Afrika, Atlas, Auswanderer, Birnbaum, Hebriden, Moers, Oklahoma, Prärie, Reise, Scotch, Sioux, Traum, USA, Whisky
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4. Februar 2012 um 8:51 PM
Darf man den Text dahingehend interpretieren, dass Du Dich künftig als Reiseschriftsteller betätigen wirst? Aber was ist das für ein grauenvolles Foto, man denkt, gleich kommt aus dem Off noch eine Maid im Rhönrad angerollt.
4. Februar 2012 um 11:32 PM
Würdest Du die Bilder meines Traumes kennen (z.B. den Elefantenfuß!), Du fändest das Foto angenehm duftig und auflockernd…
4. Februar 2012 um 8:59 PM
Was man gegen Plaid-Verwandte tut, weiß ich nicht; aber um die Hebriden zu verlassen, hätte ein Glas unseres Dornfelders von Samstagabend genügt. Aus dem Holz, das der hatte, hätte man bequem ein Floß für drei bis vier Personen zimmern können.
4. Februar 2012 um 11:33 PM
Stimmt, mit so einem Barrique-gereiften Syrah ginge es wohl, aber nur, wenn die See nicht allzu rau…
5. Februar 2012 um 12:50 PM
Anbei als Mobil-Hilfe ein Auszug aus dem „Times Comprehensive Atlas of the World“. Ich habe mir das bestialische Stück geholt um gerade zu erforschen wo Orte wie z.B. Moers liegen und somit Internetunabhängig forschen zu dürfen. Dies war doch eine Fehlentscheidung aufgrund Übergewichts und inzwischen sind etliche Wellness-Aspekte des schweren Buches an mir vorbei gegangen, es sei denn doppelter Leistenbruch gehöre dazu.
Moers liegt offensichtlich Bechnittzugabenbedingt südlich des berühmten NRW Bundgrabens. http://i221.photobucket.com/albums/dd76/Textklick/d035bc04-1.jpg
5. Februar 2012 um 12:56 PM
So ist es. Nicht zu sehen: der labyrinthische Grundriss mit seinen Tücken…
5. Februar 2012 um 1:05 PM
In jedem Fall aber liegt die Stadt M. unter einer riesigen Käseglocke bürgerlicher Wohlanständigkeit und geistiger Bräsigkeit und ich erinnere mich noch gut der zwei Jahre, als ich des Sonntagabends stets zu meiner Frau sagte: „Ich gehe jetzt nicht ins Bett, denn dann ist es ja gleich schon wieder so weit, dass ich in den alltäglichen Wachalbtraum hinübergleiten und die Moerser Straße entlang und weiter ins Jenseits unter die eigenartige unsichtbare Kuppel fahren muss.“ Nur die seltenen Besuche des Schlosstheaters boten mir damals einen Fluchtraum, um wieder freier zu atmen. Aber dankbar bin ich dann doch, denn in den zwei Jahren erwarb ich mir in harter Arbeit, ohne es damals zu ahnen, das Ticket zur ständigen Ausreise.
5. Februar 2012 um 1:08 PM
@Thomas: Dann war es vielleicht diese Glocke, die mich nicht mehr hat herausfinden lassen…