Umheimliche Begegnung am Brückenplatz (steampunk)

Professor Freud mit neuem Triebmodell (Fotoquelle: http://www.untote.cc/2008/07/21/steampunk-artwork/)
Die Menschen, scheint’s, werden zunehmend wunderlicher, ich bemerke das durchaus, ihr abgeschmacktes Auftreten, das flirrend Narrenhafte und Flamboyante ihrer Kleidung und wie sie hinterrücks mit toten, farblosen Augen mir Löcher in die Welt bohren! –
Gestrigen abends war es spät geworden; ein langer arbeitsreicher Tag lag hinter mir, sowie noch eine sowohl detaillierte als auch epische Schilderung der Gattin, wie sie selbigen Tages eine Brustvergrößerungsoperation gefilmt habe, wobei es aber der Tontechnikerin blümerant geworden sei, weil sie nämlich das Blubbern, Zischen, Knirschen und saugende Schmatzen des Fleisches direkt auf die Kopfhörer übertragen bekommen musste und zwischen ihnen, den Kopfhörern, eben nicht genügend Platz zu finden gewesen sei, um sich dem fleischlichen Elend flüchtend zu entziehen, – so dass ich, diese Erzählung auf dem Heimwege ins Büro noch ventilierend, mich für berechtigt hielt, mir am Büdchen auf dem Brückenplatz eventuell ein kleines Fläschchen Jägermeister zu erstehen: Man ist ja, wie es der Präsident unserer Republik sachdienlicher Weise formuliert hat, „auch nur ein Mensch“. Aber stimmt das denn auch und passt auf alle?
Wie ich nämlich gerade in den Hosentaschen nach kleiner Münze grub, um ein Schlückchen vom hilfreichen Kräuterlikör zu erwerben, traten mir wie aus dem Nichts entsteigend drei unheimliche, schwarz gekleidete Geschöpfe der Nacht entgegen, eines wohl männlich, eines ein fettes Mädchen, sowie ein ungeheuer langes, mich Norm-Riesen weit überragendes, klapperdürres Gespenst unbestimmter Geschlechtszugehörigkeit, das, nach steampunk-Art gewandet, sich mit schulterlangen, neonbunt durchflochtenen Dreadlocks schmückte und eine Brille mit gruftgrünen Gläsern (goggles) in die Stirn geschoben hatte. Das Gothic-Mädchen hingegen war nur notdürftig aus breitem, weißem Hefeteig geknetet, aber derart eng bestrumpft, gegurtet, umpuschelt, gehalsbandelt, vernietet, umkettet, abgespachtelt und generalübertüncht, dass es von ganz allein in der Form seiner Umrisse verblieb, was den Dritten im Bunde der apokalyptischen Triole zu einem gewissen Frauen-Besitzerstolz animieren schien. Selbdritt starrte man mich aus feindseligen Kajal-Augen an, als sei ich der personifizierte Absturz, der schwarze Morgen-Kater, das wandelnde Entzugssyndrom. „Wartet, wartet, ihr drei Schönen…“, japste ich mit unnatürlich hoher Stimme, denn ich wollte einen Beweis, „darf ich euch…“ – Ich wollte sagen: „…vielleicht fotografieren?“, aber da waren die drei schon genauso totenstumm und maskenschweigend wieder in der Nacht verschwunden, aus der sie sich zuvor so instantan manifestiert hatten.
Wie ich aber nun heute des morgens, am frühen Sonntag, auf dem nämlichen Brückenplatz, die dorten firmierende Bäckerei Bolten betrat, um, wie es meine gute, bewährte Gewohnheit ist, frische Brötchen zu kaufen, damit ich in der Folge frühstückshalber kommod der Gattin beizuwohnen in die Lage käme, fand ich sie, die Bäckerei, knüppeldicke besetzt, voll gestopft und nahezu verrammelt mit Scharen bestürzend ungefüger, grobschlächtiger, teilweise auch hässlich entstellter Brillenträger vor, welche in dummen, ja geradezu frappant albernen hellblauen Uniformen aus dem frühen 19. Jahrhundert steckten, welche ihnen sei’s viel zu groß um die Knochen schlackerten, sei’s spack und wurstig um die ausladenden Hüften spannten, dergestalt dass sie, die urplötzlich emergierten Karnevalsjecken, denn um nichts anderes handelte es sich bei dem pickligen, unfrohen Volk,– am Ladentresen unentwegt eine, haha! „steife Latte“ und Zwiebelmettbrötchen „aber ohne Zwiebeln“ ordernd –, mir jede Aussicht auf zeitnah zu erwerbendes Backwerk raubten, was in mir, so früh am Morgen, heftige Anwandlungen von Misanthropie, wenn nicht sogar schlimmer, bösartiger Anthropofugalität verursachte, sintemalen ich, eben um diese Zeit, von einer enormen ästhetischen Hypersensitivität geplagt werde, die in reziprokem Verhältnis zu meiner mitmenschlichen Toleranzschwelle steht.
Was, frug ich mich, hat denn dieses idiotische Narrenpack, dieses urdeutsche Demenzphänomen und Belästigungsgesindel, morgens um halb zehn, am heiligen Sonntag, ausgerechnet bei uns im Geddo zu schaffen? Ist denn, halten zu Gnaden, die Menschheit nunmehr ganz und gar aus dem Häuschen geraten? Aus dem urgemütlichen deutschen Haus- und Gemeinwesen ist wahrhaft ein bizarres Charivari geworden, in dem Tag und Nacht, Sinn und Nonsense, Menschliches und Gespenstisches schrill kichernd und haltlos ineinander gleiten, uns Gutgesinnte und gemütvolle Herzenstakt-Besitzer böswillig verwirrend, behindernd und ängstigend! Wie soll das noch auskommen?
* * *
Apropos: Kürzlich hörte ich mich gesprächsweise behaupten, das voluminös gleißnerische Gesamt-Werk des Scharlataneriewarenhändlers Prof. Sigmund Freud mit all seiner vollrohr verschlungenen Psycho-Hydraulik, seiner plüschig-sofaesken Dampfsexualität und der wirren Bricolage aus Ventilen, Druckmessern und mystischen Triebwerken sei recht eigentlich eine veritable steampunk-Wissenschaft, eine phantastisch-retrofuturistische, viktorianische Bastelei von monströser Schönheit zwar, wiewohl dennoch letztlich auch zur Gänze nutzlos. Ich rede viel, wenn der Tag lang ist, doch dieser Gedanke erschien mir noch lange, bis in die tiefe der Nacht hinein, haltbar. Wenn nicht sogar ausgezeichnet!
Explore posts in the same categories: In the ghetto, NotizenSchlagwörter: Anthropofugalität, Brückenplatz, Brust-OP, Charivari, Freud, Karneval, Misanthropie, Nacht, Psychoanalyse, Schrecken, steampunk
You can comment below, or link to this permanent URL from your own site.
16. Januar 2012 um 3:51 PM
Vollrohr verschlungen – das ist’s. Der Text erinnert mich an diese speziellen, lustigen Samstagaben-Spielshow-Aufbauten, bei denen von jemandem eine leitende Öse um kurvig arrangierte elektrifizierte Rohre herumgeführt werden muß, um bei ungeschicktem Anstoßen ein fröhliches Britzeln und Funkensprühen auszulösen.
16. Januar 2012 um 10:24 PM
Das Wort „Belästigungsgesindel“ ist besonders fein, ich werde es bei nächster Gelegenheit lauthals benutzen.
Überhaupt ein wunderlieblicher Text, und eine völlig angemessene Würdigung für jenen Doktor, der versuchte, Morphinismus mit Kokain zu kurieren.
16. Januar 2012 um 11:15 PM
Hübsche Kommentare! – Ich danke. Das Wort „wunderlieblich“ wiederum werd ICH mir merken…
19. Januar 2012 um 11:02 AM
Ich hab leider aufgehört lesen, nachdem ich in einem Satz gleich zweimal googeln musste, um dein Vokabular zu verstehen. Daran erkennt man dann wohl auch die wahren Wortschatzhüter: „Anthropofugalität“ kommt im großen weiten Internet heiße 44 mal vor, zwei der Treffer waren Deine, 0 Wikis, 0 Duden, und auch sonst keine altklugen Worterklärer dabei. Bei „sintemalen“ hatte ich mehr Glück. Trotzdem schleich ich angesichts solcher Wortgewalt lieber leise trappsend von dannen. Das ist zuviel für mein simples Gemüt …
20. Januar 2012 um 8:38 AM
Ooch… Ich muss österreichische Vokabeln auch immer nachschlagen – ist doch nicht schlimm…
20. Januar 2012 um 12:39 PM
nö, schlimm wirds erst, wenn mir das Netz keine Auskunft mehr gibt, wie sintemalen in diesem Fall. Ob man Anthropofugalität essen kann, weiß ich immer noch nicht. Des hot donn kaan reibach ned …
20. Januar 2012 um 1:32 PM
Als nicht-Muttersprachler frug ich mich zunächst nach der wahren Bedeutung des vierten Absatzes, fürwahr ein sprachenstürmlicher Hochdrucksystem, und nug länger daran. Indes beschäftigte sich als deutsche Staatspersonin meine Gattin mit dessen Lektüre und sug mir anschließend, sie habe keinerlei Bedenken und habe sogar länger keinen Text erlebt der derartig stylistisch hervorrrug. Somit entfernten sich für all Zeit meine Zweifel.
@ joulupukki: Selbst im anscheinend-bodenlosen Internet ist die Suche nie zufriedenstellend. Meine Forschungen rein persönlicher Natur innerhalb kompetenter Fachkreisen ergaben daß „Anthropofugalität“ als Reclamebegriff bei einem Zahnprothesenbesfestigungsmittelhersteller zu finden sei und ebenfalls in der medizinischen Rehabilitation für Kieferbruchphysiotherapeutischen Zwecke eingesetzt werde.
20. Januar 2012 um 2:43 PM
Haltloses Gekicher war unvermeidlich. Dennoch war Anthropofugalität das Wort, das mir Hoffnung auf die kommende Generation gibt: „Menschenflucht“ sprach mein Spross und spritzte weiter Ketchup auf sein Käsebrot, „ist doch klar“. Den Käse und die 15 Punkte in Philo hat er anscheinend wirklich verdient.
21. Januar 2012 um 12:12 AM
Auf die Contessa als „eutsche Staatspersonin“ ist halt Verlass! Ich danke ausdrücklich für ihr Unbedenklichkeitszeugnis!
20. Januar 2012 um 2:44 PM
Ihr Scherzkekse! Macht Euch ruhig über einen alten Mann lustig! „Anthropofugalität“ ist ein griechisch-lateinisches Hybridwort, eine Philosophie prinzipieller Menschfeindlichkeit bzw. -flucht zu bezeichnen.
Und „sintemalen“ steht WOHL im Netzt: altes Wort für „zumal“.
So, jetzt alle zufrieden?
Ich frug mich schon, ob ich kein Teutsch mehr könne!
20. Januar 2012 um 3:09 PM
Hab doch gesagt, dass sintemalen mehr Ergebnisse liefert (Bei „sintemalen“ hatte ich mehr Glück)
20. Januar 2012 um 5:51 PM
Da sieht man wieder, wie gut es ist, alte Sprachen mal ein bisserl gelernt zu haben. Ich hab das Wort Anthropofugalität hier zum ersten Mal gelesen, verstanden und schön gefunden. (Schön deshalb, weil: Griechisch! Latein! Bildungsbürgertümlich-hochgestochen! Jawoll!)
Dein Teutsch, ô 6kraska6, ist zweifellos ganz fürtrefflich.
20. Januar 2012 um 6:03 PM
Danke, Claudia. Wiewohl, der grosse Theodor W. Adorno hat griechisch-latinische Hybridworte – Achtung! – perhorresziert!
23. Januar 2012 um 1:59 AM
Bei … FRUG … stellen sich mir nicht nur die räudigen Nackenhaare auf, es kräuseln sich auch meine Fussnaegel, die seit 3 Jahren keine Podologin mehr gesehen haben. Und … etwas weniger dieses demonstrativen darstellens uebermaessiger Intellektualitaet wäre effizienter und einfach … „mehr“.
20. Januar 2012 um 2:46 PM
Betr. Puzzle: sixt’s, jou, dös woas a Kind scho!
20. Januar 2012 um 3:10 PM
Eh kloar. Die haben ja auch nicht mein simples Gemüt.
30. Januar 2012 um 9:13 PM
Man muß doch seine Sprache nicht bloß Gassi führen, sondern gelegentlich auch vollkaracho über die Böschung steuern und ihre Offroad-Tauglichkeit überprüfen dürfen!
Zutiefst tauglich, das.
31. Januar 2012 um 12:28 AM
Danke, Lakritze! Zuspruch von Profis! Ein Labsal. Wobei mir das offroad-Fahren mit der Sprache als Bild und Praxis seeehr gefällt. Man muss halt zusehen, dass man allerwege genug Luft auf allen vier Reifen hat!