Biographisches Fragment
Ich heiße Gernot Riederer und ich hasse den Namen, weil er mich an meine Kindheit erinnert; meine Kindheit verdirbt mir deshalb noch heute die gute Laune, denn sie, die Kindheit, war hart wie Brandt-Zwieback. Von meiner stets stur sturzbetrunkenen Stiefmutter wurde ich stupide mit stereotypen Stabreimen gestillt. Danach ernährte ich mich mühsam von Rabenbrot mit bitterer Tunke. Ein seltener Festtag, wenn Mutter mal unverhofft aus dem Koma aufschreckte und uns im Schnellkochtopf zermatschten Rosenkohl verkochte. Er schmeckte stets nach Hasen-Urin, war aber mal wenigstens eine Abwechslung, wie sonst nur Donnerstag, da kam immer der Milchmann. Wir waren zehn Geschwister, meine Schwester Amelie und ich, sie sechs, ich vier, wegen des Altersunterschiedes. Jeden Abend hockten wir um den Resopal-Tisch, den trüb neonbefunzelten, und benagten frische Birkenzweige. Wegen dieser Mangelernährung peinigte uns die Angst vor kommender Kleinwüchsigkeit, eine der fiesesten Phobien, die es auf der Welt gibt, außer vielleicht der Abneigung gegen Staphylokokken-Salat.
Das schönste Erlebnis mit meiner Schwester (13) hatte ich (7), als wir Hans-Peter Riederer begruben, unseren Wellensittich, für den wir das Sorgerecht teilten und der sich umbrachte, in dem er in den offenen Petroleumofen flog, weil er es in der Riederer-Familie nicht mehr aushielt. Wir betteten unseren kleinen blauen Freund auf geweihter Watte in einer Zigarrenkiste („Sportstudent“), einen frischen O.B.-Tampon als letztes Kopfkissen. Psalmodierend prozessionierten wir dann mit ihm kreuz und quer durch den Gemüsegarten (Rosenkohl!). Meine Schwester rauchte dazu feierlich eine Overstolz-Zigarette, weil dies angeblich zum „protestierten Ritus“ gehörte. Mir konnte man ja viel erzählen, damals.
Allerdings nicht, dass Oma-Berlin „eine längere Reise“ angetreten hatte. Für wie blöd hielt man denn Siebenjährige! Sie war nämlich am Oberschenkelhalsknochen erstickt, nicht ohne zuvor im Hospital, wo wir sie besuchen mussten, meine Schwester und ich, ihre Demenz energisch dementiert zu haben, während sie zugleich, irre kichernd, berichtete, wenn ihr fröre, würde man abends ihr Nachthemd mit Heilspiritus tränken und sie fürsorglich anzünden. Wir waren nachhaltig beeindruckt. – Meine entzündete Oma durchgeisterte noch Monate lang meine Albträume. Dann verschied Vater. Das heißt, genau genommen war er nicht tot, nur immer seltener zuhause. Liebend gern hätten wir, meine Schwester und ich, ihn würdig neben Hans-Peter begraben, aber den Gefallen tat er uns nicht.
Als der intellektuell regsamere unter uns zehn schlug ich meiner Schwester vor, dass wir, falls uns tatsächlich das Schicksal der Kleinwüchsigkeit ereilen sollte, wir immer noch gemeinsam durchbrennen und zum Circus Renz gehen könnten, und zwar beispielsweise als „die phänomenalen Riederer-Twins“. Meine Schwester indes war eine phantasielose Pragmatikerin, die darauf herumritt, bei sechs Jahren Altersunterschied würden wir ja wohl kaum als Zwillinge durchgehen können. Für mich war das eine Frage der Einstellung! Meine intransigente Haltung in manchen Dingen führte dazu, dass ich außer Mutter und Amelie viele Jahre keine Frau mehr kennenlernte: Man geht nicht fehl, dies für eine Durststrecke zu halten. So schlug ich die Laufbahn eines Gynäkopathen ein.
Heute, als ausgebildeter Tanzlehrer, schaue ich auf diese Zeit mit Wehmut zurück. Wir waren so idealistisch! Ich jedenfalls. Meine Schwester übernahm einen Konsum. Ich hingegen wurde auf ein altgriechisches Gymnasium gegeben, wo wir als Jünglinge splitternackt im Klassenraum stehend die Ilias aufsagen mussten. Rückwärts! Bei offenem Fenster! Hier übertreibe ich etwas. Übertreibungen liegen mir im Artistenblut. Den Rest der Kindheit habe ich verdrängt. Auf dem alten Klassen-Foto erkenne ich niemanden mehr, nicht einmal mich selbst. Aber vielleicht hatte ich auch gefehlt. Die Pubertät habe ich dann geschwänzt, bis auf dass ich mal in Frau Frerkes verliebt war. Sie lebt heute in Argentinen, glaub ich. Wir sind gute Freunde geblieben.
Explore posts in the same categories: Bizarres aus der Denkfabrik
Schlagwörter: Kindheit, Oma, Rosenkohl, Wellensittich
You can comment below, or link to this permanent URL from your own site.
27. Dezember 2011 um 11:14 PM
Und dann?
28. Dezember 2011 um 12:25 AM
Ja, Verehrte, das kennst Du doch, das ist ein sog. Cliffhanger. Das „und dann…“ ist eine andere Geschichte! In der evtl. Frau Frerkes die Hauptrolle spielt!
28. Dezember 2011 um 12:46 AM
Heimtückische Sesamtiere, die sich durch das Knäckebrot einer Kindheit fressen, Rosenkohl mit Kaninchenstallgeschmack – schaurig, aber Frau Frerkes ist mir wurscht: Oma-Berlin ist meine Heldin.
28. Dezember 2011 um 1:03 AM
Du kennst Frau Frerkes nicht! Sie war eine Bombe!
28. Dezember 2011 um 11:49 AM
…ich kenne keinen der es nicht schwer hatte….
30. Dezember 2011 um 12:02 AM
Nicht wahr? Kindheit ist etwas scheußliches. Von der Pubertät ganz zu schweigen. Akzeptabel wäre das Alter, wenn es einen nicht so quälen würde…
28. Dezember 2011 um 12:32 PM
Ich bin beim Lesen fast an einer Knäckebrotscheibe erstickt. Ganz ungünstig, wenn man so etwas aspiriert.
30. Dezember 2011 um 12:00 AM
Versuchs mit etwas Rosenkohl…
29. Dezember 2011 um 10:06 PM
„Den Rest der Kindheit habe ich verdrängt.“
Irgendwie beruhigt uns das.
30. Dezember 2011 um 12:00 AM
Tja, dazu ist Kindheit da. Wir wollen den Psychoanalytikern ja etwas zu beissen geben…