Sterm lernen (Geniale Gene)


Obwohl ich deren absurd überdrehten Primitivpopulismus manchmal – mit leichter Ekel-Faszination – durchaus zu goutieren weiß, kauf ich die BILD-Zeitung nicht; das beruht nicht auf rationalen Gründen – ich bin halt mit der Idee sozialisiert worden, dass das ein grundbös verderbtes, menschenfeindliches Drecksblatt sei, das zu lesen gleichsam bedeutete, den Satan unterm Schwanz zu küssen. Natürlich ist das Unfug, aber gegen Überzeugungen, die in Jahrzehnten bis in die letzten roten Blutkörperchen vorgedrungen sind, rechtet man selbst mit sich selbst vergebens.

Jetzt aber nun lag zum 3. Oktober eine Gratisausgabe im Treppenhaus, und da hab ich halt blindlings zugegriffen, weil sich mir die Schlagzeile „Diesen 100 Deutschen gehört die Zukunft“ versehentlich ins Auge gebohrt hatte. Auf fein, das les ich jetzt mal, dachte ich, von einer flüchtigen Verstandeseintrübung beschattet, denn ich kenne zwar Leute, denen halb Deutschland gehört, aber gleich die ganze Zukunft? Das Studium der Liste eminenter Mustermenschen, die, so BILD, „mit ihrer Arbeit und ihren Ideen unser Land verändern“, bereicherte mich zuvörderst um eine Reihe neuer Wörter, die ich in runder Kleinmädchenschrift säuberlich in mein Vokabelheft eintrug: Catwalk-Gazelle, Latzhosen-Pirat, Twitter-Goethe, SPD-Generalwaffe. Hm, soso.

Unter allerhand Jungsschauspielerinnen und Herrenmodemodellen stach ein rötlich-semmelblondes, pausbäckiges Kleinkind (19 Monate) hervor, das auf dem Foto kindstypisch dümmlich und optimistisch in die sonnige Zukunft blinzelte und frappierende Ähnlichkeit mit dem Knäblein aufwies, das früher die Packungen von Brandt-Zwieback zierte. Vermutlich ein Wunderkind, denn es wunderte mich doch, wie man in derart frischem Alter schon mit seiner Arbeit und seinen Ideen das Land verändert; um der Wahrheit die Ehre zu geben, sah das Bübchen eher nach der Art Konzentration aus, die man ausstrahlt, wenn man erstmals auf dem Töpfchen sitzt und seinen Eltern unbedingt eine Freude machen will. Die erläuternde BILD-Bildlegende versicherte, es handele sich beim Erstmals-auf-dem-Töpchen-Hockenden um Amadeus (!) Becker, den vorerst letzten Spross von Boris Becker und irgend so einer Frau oder was. Ja und? dachte ich herzlos, ein behindertes Kind halt, was solls! Wieso wird DAS denn Deutschland verändern? Nun, BILD, die es wissen muss, weiß es auch: Das Kind hat nämlich, was man ihm gar nicht ansieht, „geniale Gene“! Weil es von einem einfältigen, zusehends schwer verlotterten, kognitiv massiv beeinträchtigten Ex-Filzball-Prügler und einem lebenden Kleiderbügel abstammt?

Während ich mir noch vorstellen kann, dass der geniale Töpfchen-Tropf dereinst eine Karriere als BILD-Redakteur einschlagen könnte, um dort geniale Formulierungs-Granaten zu drechseln, reicht meine Phantasie nicht hin, um mir vorstellen, was für eine Deutschland-relevante Zukunft Ferdinand Zvonimir (!) von Habsburg (14) verspricht. Der kleine Prinz besitzt außer einem korrekten Seitenscheitel noch die Qualifikation, als „zukünftiger Chef des Hauses Habsburg“ einer der „ehrwürdigsten Dynastien Europas“ (BILD) anzugehören. Das mag ihn evtl. dazu befähigen, dermaleinst eine Doktorarbeit abzuschreiben und transatlantischer Interkontinentalclown zu werden, der ehrenamtlich in einer amerikanischen Denkfabrik am Fließband steht wie Karl Theodor vonundzu, aber dass die „ehrwürdigste Dynastie Europas“, will sagen die dreimal verfluchten Habsgierer in Deutschland noch einmal eine Rolle spielen, nein, so grausam kann der Engel der Geschichte nun doch nicht sein, oder?

Mein depressiv-aggressiverer Anfall begann galoppierende Vehemenz anzunehmen, als ich ferner las, Deutschlands Zukunft würde gestalterisch, neben dem blonden Scheißerchen und dem kleinen Prinzen, auch noch von dem sprechenden Gemüsehobel Jimi Blue (!) Ochsenknecht bestimmt. Das ist dieser eine, enorm backpfeifengesichtige Sohn des mittelbegabten Glupschaugen-Dramatikers Uwe; der andere heißt Wilson Gonzales (!) und seine Schwester Cheyenne Savannah (!). Die Ochsenknechts gehören zweifelsfrei zu den ehrwürdigsten Proll-Dynastien wenn schon nicht Europas, dann doch von München-Grünwald, einem sauteuren Um-Gottes-Villen-Viertel, in dem Jimi Blue und Wilson Gonzales zu  VIVA-tauglichen Gettho-Strassenkids und Gangsta-Rappern heranwuchsen.

Unterm Strich liegt, glaubt man BILD, die Zukunft unseres Landes überwiegend in den Händen von Schauspielerschnepfen, Sportidioten und mittelprächtigen Show-Sternchen mit Prolletten-Namen, die ihre mittlere Dschungelcamp-Reife anstreben, mit anderen Worten: BILD lesen heißt sterben lernen, denn wer wollte in so einer Zukunft leben? Ich jedenfalls nicht. 

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7 Kommentare - “Sterm lernen (Geniale Gene)”

  1. /cbx Says:

    Bautz – Perdautz! Nienicht dachte ich, in der BILD-Zeitung die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu finden, so wahr mir vermutlich niemand helfe! Ich danke Dir für den Hinweis!

    Gerade habe ich diesen Bestseller „Nerd Attack“ gelesen, der uns (also eher mir) Kindern der 80er ein integriertes No-Future-Zentrum attestiert, das damals von der hoffnungslosen Situation um die unmittelbar bevorstehende atomkriegliche Vernichtung unseres Planeten (oder wenigstens Waldsterben oder Mundgeruch) verursacht wurde. Wir können mit hinreichender Sicherheit davon ausgehen, dass der Weltuntergang damals nicht stattgefunden hat.

    Jetzt, wo sich, den kognitiven Fähigkeiten der Bevölkerung angepasst, auch der feurige Galopp in die Apokalypse zu einem schlurfenden Trab verlangsamt hat, sind die Menschen schon viel glücklicher – gleichzeitig aber auch viel näher am Abgrund – und ja, vielleicht auch, weil sie zunehmend nicht mehr in der Lage sind, Sätze mit mehr als fünf Worten sinnerfass

    Lerne daraus, Magister, dass die BILD, die ubiquitäre Fachpublikation für den ambitionierten Apokalyptiker mit dieser Aufstellung den Nagel genau auf den Daumen getroffen hat. Ganz genau diesen Menschen gehören die letzten paar verbleibenden Jahre unserer Zukunft.

    Und ich will sie gar nicht haben.

  2. erinnye Says:

    Danke für diesen Artikel. Die Ochsenknecht-Passage hat mir besonders gut gefallen. Wobei ich denke, das Beschriebene ist nicht nur Zukunftsvision, sondern findet bereit statt. KT hätte wahrscheinlich ohne seinen familiären Hintergrund nicht so schnell politische Karriere gemacht und die schauspielerische Zukunft von Jimi Blue ist sicher. BILD irrt nicht.

    • 6kraska6 Says:

      Ja, das fürchte ich auch, dass BILD nicht irrt. Fazit: Meine Zeit ist abgelaufen. Man wickle mich in eine BILD-Zeitung und begrabe mich an der Biegung Ausflusses!

  3. Lakritze Says:

    An ihren Namen sollt ihr sie erkennen. »Unser kleiner Horst-Jehova-Sky hat so Probleme in der Schule, wir glauben, er ist hochbegabt …« — »So, Herr Schmidt? Erzählen Sie mir mehr!«

    Übrigens mächtig nett von Dir, daß ich jetzt die Bildzeitung nicht im Original lesen mußte.

  4. Waldbauernbub Says:

    Und ich habe die Zeitung liegenlassen, weil für Toilettenzwecke zu hart und ich dachte die gehört einem der Rentner aus der Hausgemeinschaft. MIST.
    Aber wenn die Geissens gefehlt haben kann das ganze sowieso nur schlecht recherchiert gewesen sein. Weil wer in der Duftwolke des
    Parfaaans Roberto Geissini das Lied JetSet intoniert gehört wirklich zu den Veränderern in Schland.

    Mir würde genug einfallen. Auch beim schüren wäre ich behilflich.

  5. oachkatz Says:

    Schöner Schluss-Satz.


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