Schneekugeln, Altlasten, Fernsehen ohne Geruch
Neuerdings interessiere ich mich für den Buddhismus der Tibeter. Also nicht die für den Westen weichgespülte Version des lieben Onkel Dalai Lama, sondern die alte hard-core-Lehre. Die weisen alten Männer auf dem Dach der Welt waren z. B. der Überzeugung, was uns alltäglich quält, schmerzt, ängstigt, nervt oder auch nur schwer auf die Kette geht, sei im wesentlichen bloße Illusion, Projektion des Ich oder Einflüsterung mieser Dämonen, nichts Wirkliches jedenfalls. Das hat was, finde ich. Es beruhigt. Man starrt auf den Bildschirm und atmet tief durch: Nothing is real! Kann mich also letztlich kalt lassen. Oder warm: Guckt man in eine Schneekugel, die man schüttelt, friert man ja auch nicht, obwohl drinnen der Blizzard tobt.
Außerhalb der großen Schneekugel – bzw. innerhalb der kleinen eigenen – hat man es schön, aufgeräumt, satt und bequem. Da ist der kleine Mann ganz groß. Kann etwa die Füße auf den Tisch legen und den Strategen spielen. Solln wa Bodentruppen einsetzen? Oder bloß die neuen Marschflugkörper antesten? Mal unsren fetten Eurofighter aus der Hose holen? Ich Fernseh-Depp guck mir startende Bomber an und denk tatsächlich im Stillen: Genau! Bombt den doch weg, den scheiß Diktator, schmort dem seinen verfickten Untergangs-Bunker zu Asche! (Man bleibt ein Kind, trotz allem…) – Das Beste an den elektronischen Medien ist immer noch, dass sie keine Gerüche übertragen können, oder? Der Geruch nach Phosphor, Napalm, verbranntem Fleisch und eiternden Wunden bleibt hinterm Schirm. Gut so! Will ich vielleicht wissen, wie es in den nordjapanischen Ortschaften riecht, wo noch tausende Leichen geborgen werden müssen? Nein, möchte ich lieber nicht.
Gestern hatte ich ein Flugblatt im Briefkasten. Darauf war mein Stadtteil (genau, das Geddo plus Umland) abgebildet, darüber war eine Art Fadenkreuz gelegt, mit so Zonen-Kreisen wie um Fukushima. Erst dachte ich, es handele sich vielleicht um diese neumodischen Kaufkraftanalyse-Diagramme und es ginge um ein neues Möbelhaus oder so. In Wirklichkeit (!) wurde eine weitere britische oder amerikanische Zehn-Zentner-Bombe (= ca. 145 Zentner TNT) aus dem II. Weltkrieg gefunden, mitten im dicht besiedelten Wohngebiet, in der Friedenstraße. Montag wird man versuchen, die Bombe zu entschärfen. Wir müssen dann daheim bleiben, die Fenster schließen und unter dem Küchentisch Platz nehmen. Ich selbst befinde mich mal wieder im Zonenrandgebiet, aber die Sommerresidenz der Gattin liegt so ziemlich im Zentrum der Kreise. Nun ja, Duisburg war ein Zentrum der faschistischen Schwerindustrie, da wimmelt es halt vor Blindgängern, auch 67 Jahre nach den alliierten Luftschlägen. Aber bis jetzt fand man die schlummernden Höllenmaschinen immer in anderen Vierteln (andere Schneekugel!), nicht bei mir um die Ecke. Erstmals würde ich das Misslingen der Bombenentschärfung also nicht aus den Medien erfahren, sondern unmittelbar. Es würde schneien in meiner eigenen Kugel!
So weit wird es aber vermutlich nicht kommen. Der nordrhein-westfälische Kampfmittelräumdienst verfügt glücklicherweise in allen größeren Kommunen über erfahrene, professionelle Bombenentschärfer, die gewohnheitsmäßig ihr Leben riskieren, damit uns die Wirklichkeit nicht einholt. In Duisburg haben sie es schon mit der dritten Bombe in diesem Jahr zu tun. Es sind unberühmte Leute, wie die meisten echten Helden. Sie entsorgen den tödlichen Müll des Krieges. Nach sieben Jahrzehnten immer noch. – Wer sich vor dem Bildschirm an „chirurgischen Luftschlägen“ ergötzt, sollte das evtl. im Auge behalten: „Die Wirklichkeit blutet wirklich“ (Botho Strauß). Es sei denn, man entschließt sich, ein tibetischer Mönch zu werden.
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Schlagwörter: Aliierte, Bomben, Botho Strauss, II. Weltkrieg, Leben, Luftschläge, Medien, Schneekugeln, tibetischer Buddhismus, Wirklichkeit
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26. März 2011 um 1:16 PM
Meisterlich wie immer, Herr Magister! Und irgendwie scheinen wir wirklich Brüder im Geiste zu sein, wenn Du guggst, was da heute aus meinem Kopf gequollen ist. „Die Schrecklichkeit des Seins ist viel schrecklicher, wenn es um sein eigenes Sein geht.“[/cbx].
Und was das Gaddafi-Bombardieren betrifft: Ich red‘ ja sooo gerne dagegen. Wenn die Franzosen Städte in Libyen bombardieren, weil der Gaddafi seine Soldaten auf seine Bürger schießen lässt, dürfen dann nicht auch die Holländer Berlin bombardieren, weil der Mappus seine (aus Berlin eingeflogenen) Polizisten in Stuttgart mit dem Wasserwerfer Kinder blind schießen lässt? Es ist immer alles so relativ.
Und eine zweite Meinung wollen wir uns immer nur leisten, wenn der eigene Arsch schön weit vom Problem entfernt ist.
26. März 2011 um 1:43 PM
Tja, seltsam. Das mit den Brüdern im Geiste ist mir auch schon aufgefallen. Und Stanislav Lem liebe ich auch…
27. März 2011 um 3:44 AM
Meine Erstkontakte mit Terrorismus, Anschlägen und Bomben waren die allgemeinen Verdächtigungen, Jeder wäre Terrorist und verdächtig, welch unsagbare Unterstellung!
Na vielleicht haben die ja recht, wenn selbst Kraska was von Bomben schreibt, die ja nun in Duisburg gefunden wurden, Irgendjemand muss die ja dort hingetan haben!? Bomben in Duisburg, au weia! Nicht in Ägypten, nicht in Lybien, mitten in Duisburg! Wer tut das denn? ( Wollte Merkel umziehen?)
Da fliegt mir glatt die Socke vom Schreibtisch weg, die ich immer zum Lesebrille putzen da liegen habe. ( Gibt nichts besseres dafür!)
Meine erste Bombenstimmung, stammt von einem Toaster, kein Selbstbau-oder Umbaugerät, sondern ein legal entstandenes Elektroteil mit deutschem Namen, wahrscheinlich in einem Drittland gefertigt.
Dieser Toaster, den ich mal als Raketenbasis bezeichne, ist ein echt gefährliches Gerät. Wenn man die Munition, in dem Falle die Toastscheiben einfüllt, den Abzugshebel betätigt und lange genug wartet, bis die Geschosse heiß genug sind, ist das humaner als jeder Krieg, nur nicht so gefährlich.
Aus der Abschussrampe kommen die Toastflugraketen geschossen, landen direkt vor der Nase meiner 4-Beinigen Bodentruppen, die sich erst einmal erschrocken in Sicherheit bringen.
Meine Toastflugbomben entsorge ich, nach dem ich genügend Leberwurst darüber gestrichen habe, für meine Stadt reicht es, ich hoffe auch noch für Duisburg! 😉
27. März 2011 um 10:52 AM
Ich mag deinen Schneekugelvergleich. Bei uns reichen sie bloß, um politisches Kleingeld zu machen. Deine philosophischen Assoziationen sind gelungener.
28. März 2011 um 10:37 AM
Schneekugeln: geschüttelt, nicht gerührt. Und jedem die seine. Schöhön.
28. März 2011 um 11:09 AM
@jou: …aber die abgebildeten Schneekugeln finde ich schon auch reizvoll!
5. April 2011 um 11:22 AM
mhm … geschmackvoller, als mozartkugeln sind sie allemal.