Feier zum Trotztag
Nachts um eins. Das Viertel schläft. Der einsame Magister in seinem Turmzimmer begrübelt lustlos Philosophisches. Nur unten im „Novi Pazar“ ist noch Licht. Nicht unverlockend. Nichts gegen Kant, Fichte und Hegel, aber es fehlt in den Büchern die Lebenswärme, gerade nachts. Anders unten in der Serben-Kneipe. Letztes menschliches Leben vor der endlosen Polarnacht. Zwei Stunden guck ich mir das abstinent und vernünftig an, von meinem Schreibtisch aus, dann geh ich halt doch mal kurz ’runter, nur „Guten Abend“ sagen, auf keinen Fall mehr! – Da gegenüber in der Nachbarschaftskneipe wird heute anscheinend mal wieder richtig ausgelassen gefeiert („ch’efaierrt“), seit nachmittags schon, soweit ich das ge-checkt habe. Die Balkan-Klarinette tirilliert mir noch hier oben ins Hirn. Hätt ich nicht diesen verdammten Grippe-Infekt, ich lüde mich glatt ein, Leute. Ich mag die Menschen dort nämlich, obwohl ich, als ich sie noch nicht kannte, gegen „Jugos“ gewisse Vorbehalte hegte. Nun stellt sich heraus: sind Herzensmenschen, stolz, ehrbar und arbeitssam, kurz mit Werten wie Opa.
Die Gastfreundschaft der Serben ist ohne Falsch. Es geht nicht, wie in manchen orientalischen Regionen, um protzig-narzißtische Selbstdarstellung. Wenn sie beim Lamm sitzen und du kommst hereingeschneit, jubeln sie, als wärest du der lange vermisste verlorene Sohn, umarmen dich strahlend („ah! koko si? – Hvala, hvala, dobre!“) und lassen dir umgehend einen Teller bringen. Wie? Du hast gerade gegessen? „Aaach komm, Magisterr! Bist du Mann!! Mann kann immer essen Fleisch! (Und wenn Mann ch’at mal klaine Problem, iss doch grad gegommen aus Srbska naie Lieferunk Viagra! Kannstu kriegn fihr Fraindschafftspreiss!) – Was du trinken? Vino? Slivo? Pivo? Und: Bitte! Iss! Iss! Uund trink mit uns!“ – Man sagt gerade noch: „Ich … äh … ich … wollte bloß…“, dann sitzt man aber auch schon in der Runde, hat mehrere schwere Bauarbeiter- oder LKW-Fahrer-Arme um die Schulter gelegt, grinst wie ein Honigkuchenpferd und grölt Schlager aus der Ch’aimat mit, aus Serbien, Montenegro oder Bosnien, obwohl man ja streng genommen noch nicht mal die furchtbare Sprache beherrscht. Egal, Mann!
Als rationalistischer Philo-Magister bin ich noch immer bisschen doof, frage also Wirt Branko, den Polier Zoltan, seinen Schwiegersohn Mirko und einen noch unbekannten Albaner, indem ich ihren emphatischen Gesang unterbreche: „Was feiert ihr? Ch’eburtztach? Tauffe von Kinnt? Oder was Müslimisches?“ Zur Antwort werde ich nass schnauzbärtig abgeküsst, ausgelacht und wegwerfend belehrt: „Aaach was, Lehrrerrr, kennztu du doch! Wir faierrn bloß … so!“
Ja, klar. Genau genommen feiert man heute nacht darüber hinweg, dass Zoltan, mit gerissener Sehne, viel zu früh wieder auf den Bau gegangen ist und nun ein bedrohlich geschwollenes Knie hat („nain, weisstu, Lehrrerr, tut gar nicht soo weh! – Und waiss ich ch’alt nicht, woher sonst Gelt fihr Kinderr“); man feiert, dass sein fleissiger Schwiegersohn keine legale Arbeitstelle hat und seine schöne, glutäugige Frau nicht weiß, wie das kleine Söhnchen versorgen; man feiert, dass man viel zu stolz ist, staatliche Stütze in Anspruch zunehmen, selbst wenn sie einem zusteht, man feiert, dass mans „denen“ schon zeigt und dass man zur Steuerlast nur schmale Lippen macht. Man feiert, weil scheiß drauf! das Leben irgendwie weitergeht. Man feiert halt! Nasdrowje! Und ich … bin herzlich eingeladen!
Kränklich, alt, schwach und vom europäischen Pessimismus angekränkelt, schleiche ich mich bald wieder nach Hause. Aber dennoch, diesen wütenden Trotz, trotz allem LEBEN zu wollen, den nehm ich mit. Er ist, versteht sich, gratis.
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Schlagwörter: Feiern, Gastfreundschaft, Geddo, Kneipe, Krankenversicherung, Leben, Serben, Trotz
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27. Januar 2011 um 1:07 AM
Jetzt hatte ich beim lesen der Zeilen glatt ein bisschen das Gefühl live dabei zu sein …