In Muttis Nippeshimmel


Im "Geddo" noch präsent: der Nippes-Himmel

Ohne existentiell düstere Laune verbreiten zu wollen – ich beneide ja die hinterbliebenen Leute nicht, wenn ich mal plötzlich unerwartet und todsicher „auf tragische Weise“ zu früh tot, pardauz und zuschanden ginge. Wie ich mich kenne, kommt Gevatter Tod zu mir nämlich irgendwann so überhastet, dass ich „vorher“ nicht mehr zum Aufräumen gekommen bin! – So, nun stehen besagte Erben, von meinem Hinscheiden eh schon genervt und in ihrem Alltagstrott gestört, fassungslos in meinem halb-klandestinen Wohnschlafbüro im „Geddo“ („Gott! Was trieb der denn hier bloß!“), lassen den Blick über hochstapelnde Bücherberge, undurchsichtig heterogene Papierhalden (Pizza-Bestell-Service-Flyer, Nietzsche-Auszüge, Einkaufszettel, inhaltsleere Verpackungen, Schopenhauer-Porträts und Gebrauchsanweisungen etc.), ferner längst ausgelöffelte Ölsardinen-Büchsen und vor langer Zeit schon ausgetrunkenes, noch nicht eingelöstes Leergut schweifen (so weit dass auf 55qm geht) und murmeln unisono: „Ach du Scheiße!“ – Es gibt, wie ich vom Hinscheiden meiner verehrten Frau Mutter weiß, kaum etwas Deprimierenderes, als den versammelten Lebensschrott eines mehr oder minder ja doch geliebten „Nächsten“ entsorgen zu müssen. Weil aufheben kann den Müll doch keiner!

Wer in meinem Nachlaß zu wühlen hätte, tut mir jetzt schon leid! Der einzige Vorteil am Dasein eines veritabel berühmten Schriftstellers ist, daß man seinen aufgehäuften Schatz resp. Schrott noch zu Lebzeiten dem Marburger Literatur-Archiv vermachen und dafür sogar auch noch Kohle abgreifen könnte. Als hingegen lebenslang vollkommene Unberühmtheit genießender privater Kleinkunstgärtner besitze ich indes leider keinen Nachlaß, auf den sich begierig Germanisten-im-Hauptstudium stürzen würden, um angemessen ergriffen über meine hinterlassenen Einkaufszettel zu promovieren: Angewidert müsste man sich vielmehr durch Berge wirren Geschreibsels, kompromittierender Fotos und abstoßend schweinischer Videos („nur zu Studienzwecken!“) kämpfen; man verletzte sich an unbekannten, aber durchaus tödlichen japanischen Waffen, überflöge Papierfetzen mit obskurer Zen-Lyrik, entzifferte kryptische Philosopheme („Der Übermensch wäre letztlich auch bloß ein Arschloch!“) und durchstöberte Konvolute von auf Haftnotizzetteln gekritzelter Selbstermahnungen („Ab Morgen unbedingt weniger trinken!“, „Idiot! Auf Droge schreibst du auch nicht besser!“, „Mal endlich Müll runterbringen!“, „Morgen kommt die Putzfrau! Saubermachen!“), so daß man es bald satt hätte und den kompletten Schamott herzlos in einen Container schaufeln würde. Sic transit gloria mundi!

Während meine präsumtiven Hinterlassenschaften den schon zu Lebzeiten umgehenden Zweifel an meinem Charakter bestärkten, bestätigte dereinst die Besichtigung der Wohnung meiner verstorbenen Mutter (Ihr Gott habe sie selig!) unsere Ahnung, daß unsere bereits früh verwitwete, deshalb um so langlebigere Mama im Alter einer einzigen, zwar lässlichen, aber doch auch verschärft lästigen Leidenschaft frönte: der sorgfältigen, zuletzt aber auch manischen Akkumulation von Nippes. Und zwar, konkreter: Nippes, Nippes, Nippes! Sowie das ganze zum Quadrat!

Von einer ziemlich irren metaphysischen Panik getrieben, ertrug sie keinen Quadratzentimeter leerer Wand: Niedlichkeitsvortäuschende, neckische Setzkästlein mit dekorativen Miniatur-Dingelchen, verstaubte Strohblumenkränze, stumpf gewordene Zinnteller, Porzellan-Harlekine, herzige Engelsköpfe, semi-künstlerische Schmuckkacheln, dito Aquarelle, profane Paris-Reise-Souveniers, privat-familiäres Andenkenzeug, unerfindliche Memorabilien, Duft-Kerzchen, Schmuck-Väschen, Deko-Flakons, Duftbeutelchen, Kinderfotos, Kalenderspruchkalender, Kruzifixe (die karge, immer an Barlach erinnernde protestantische Art), Pinnwände mit Halskettchen und Ringelchen, Mokka-Sammeltassen, Ansichtskarten, gestickte Kopien von Dürers betenden Händen oder Hasen, in Kunststoffholz gerahmte fromme Sprüche, Kochrezepte und Geburtstagsgrüße etc. etc.  verwandelten ihre Witwen-Klause in ein stickiges Dickicht bzw. Horrorkabinett eminent überbordender Vollgestopftheit.

Auch wir pietätvollen Kinder  nahmen am Ende erschöpft Zuflucht zum Container-Dienst. Es war einfach zuviel des desaströs kitschigen, wertlosen Deko-Geraffels! Wer hält solche Ding-Flut denn aus! Auch nicht gerade aufbauend ist es übrigens, bei dieser Gelegenheit mit Kram konfrontiert zu werden, den man noch aus der Kindheit kannte, aber mittlerweile für die Ausgeburt ödipaler Alpträume gehalten hatte: Genau DIE beknackten Zuckerdöschen, Kuchengabeln, Cocktail-Spieße, Portwein-Schalen und Zierlöffel, die den verzweifelt undurchsichtigen, psychoanalytisch hochinteressanten Horror der Kindheit möblierten, existieren immer noch, und zwar ganz real, materiell und jeder Vergänglichkeit trotzend! Muttis hats aufgehoben! –  Weg damit jetzt, endlich!

Vor diesem Hintergrund wird es zum nahezu psychedelischen, quasi-traumatischen Erlebnis, einen Laden zu betreten oder, in meinem Fall, als Elefant im Porzellanladen, mich zaghaft hinein zu winden, der zentner- oder auch tonnenweise EXAKT DAS auf augentränend üppiger Halde feilbietet, was wir kürzlich erst mit schier übermenschlicher Mühe losgeworden sind:  Hier ist stolz der gesammelte Sammeltassen-Sammelsuriums-Salat der 40er, 50er, 60er und teilweise 70er Jahre aufgehäuft: als Muttis Traum vom Nippes-Himmel! Püppchen, Porzellan-Pudel, Parade-Paravents, Persil-Reklame-Tafeln, Fächel-Fächer, verschrobene Schraubenzieher, Nagelfeilen, Nähmaschinen-Reparatur-Sets, Patentkochtöpfe, Zigaretten-Etuis, Kämme, Armbänder, Abfluß-Siphons, Wasser-Hähne, Taschenbücher von Bertelsmann,  Army-Jacken, Clowns-Masken und Freddy-Quinn-Vinylschallplatten-Singles; wer Photo-Kameras aus den 30ern braucht, süßliche Terrakotta-Engel oder Kerzenständer aus lackiertem Messingholz, Pantoffel-Puschen im Orientdesign, mit Rosenplüsch bestickte Warmhalte-Kaffeekannen-Mützen oder gehäkelte Eier-Wärmer – alavotte! „Sehen Sie sich gerne um! Was SUCHEN Sie denn?“.

Ich suchte… – vorerst das Weite. Und dennoch, ohne daß ich einen Grund dafür benennen könnte: Daß es solche verborgenen, sich in der Tiefe eines unübersichtlichen, funzlig-duster beleuchteten  Raumes erstreckenden, wirren Trödel-Bazare überhaupt noch gibt, erfüllte mich mit Befriedigung, ja, gedämpfter Begeisterung. Wer dort in zwanzig Jahren versehentlich auf Kraskas Nachlaß stößt, darf ihn behalten! Komplett alles zusammen, inkl. der Fotos, für fünf Euro!

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2 Kommentare - “In Muttis Nippeshimmel”

  1. Uffnik Says:

    So einfach mit 20 Jahren ist das aber nicht abgemacht! Glaubst Du etwa, daß ich mit 81 Lenzen Langeweile schieben will?

  2. bin laden Says:

    […] auch einer Kombination der beiden. Auch van Gock wurde erst posthum ein reicher Mann. Andersd als Kollege K.: Komplett alles zusammen, inkl. der Fotos, für fünf […]


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