The party goes on („selber schuld“)


Das Ende der Party - der Ort des Todes (Foto: SPIEGEL online)

Duisburg am 24. Juli, 19.00 Uhr: Immer wieder knattern Helikopter im Tiefflug, landen im 15-Minutentakt; Sirenen durchschneiden die Abendluft. Blaulicht zuckt. Rettungssanitäter, Feuerwehrzüge, Bundesspolizei, Streifenwagen. Unverständliche Lautsprecherdurchsagen. Bereitschaftspolizei in Kampfmontur ist aufgezogen. Die Stadt ist faktisch von der Außenwelt abgeschnitten, die Autobahn gesperrt, der Zugverkehr eingestellt, das Handy-Netz zusammengebrochen. Stromausfall im WDR-Studio. Die Notaufnahmen der Kliniken haben Hochbetrieb

Es herrscht Chaos und Fassungslosigkeit. Vor dem Bahnhof drängen sich Menschen, teilweise alkoholisiert, unter Drogen und aggressiv – sie wissen nicht, wohin. Wohl neunzehn Menschen sind gerade im Gedränge zu Tode getrampelt worden oder von einer schmalen Beton-Treppe in den Tod gestürzt, achtzig Schwer-, ungezählte Leichtverletzte. Währenddessen geht, unfassbar, die Techno-Party unentwegt weiter, die Bässe donnern, als solle der brüllende Lärm die Katastrophe übertönen – angeblich hat man Angst, Massenhysterien auszulösen, wenn man den Rummel abbricht. Die Gefahr von Ausschreitungen ist noch nicht gebannt. Die stillgelegte Stadtautobahn füllt sich mit Sanitätszelten.

Per Webcam und Video-Stream verfolge ich „live“ und fassungslos das Desaster, eine Katastrophe, in welche die Verantwortlichen nahezu wissentlich und sehenden Auges hineinsteuerten. Eine groteske, nahezu unbegreifliche Kombination von Unfähigkeit, Fehlplanung, Verantwortungslosigkeit, Schlamperei und Dummheit. Seit Tagen habe ich mich, Zeitung lesend, gefragt, was den Loveparade-Veranstaltern, der Bundespolizei, der Deutschen Bahn und der Stadt denn eigentlich als Lösung vorschwebte, wenn die offiziell erwarteten (!) anderthalb Millionen Party-Besucher durch einen einzigen (!) Eingang auf einen abgesperrten Platz drängen, der für gerade 500.000 Menschen ausgelegt ist. Wie um Himmels Willen hatte man sich das gedacht? Was hatte man geplant, wenn Hunderttausende frustrierter, überhitzter, alkoholisierter, mit Drogen aufgeputschter, erschöpfter, enttäuschter junger Leute nach stundenlanger, strapaziöser Anreise auf das bereits überfüllte Party-Gelände drängen würden und dann zwischen den Gittern und Absperrungen nicht mehr ein noch aus, bzw. nicht mehr vor- und nicht mehr zurück wüßten? Wie soll man das anders nennen als ein programmiertes Chaos? Eine willentlich in Kauf genommene Katastrophe?

Kann man das irgendwie erklären? Vielleicht durch besinnungslose Profit-Gier, Kommerz-Verblödung, Geltungssucht, allgemeine voluntaristische Schönrednerei im Vorfeld, durch kollektive Borniertheit und verantwortungslosen Leichtsinn, durch die banale Selbstbeweihräucherungssucht der sog. Event-Manager oder den Dilettantismus inkompetenter „Stadtväter“? Durch die selbstzufriedene Sturheit einer völlig überforderten Polizei? Hat man gedacht, es würde schon, gegen alle Prognosen, irgendwie gutgehen? Wie hat man das allen Ernstes glauben können?

Es gab viele Stimmen, die Zweifel daran äußerten, dass eine arme, unterorganisierte, schlecht ausgerüstete, logistisch überforderte und überdies in solchen Veranstaltungen unerfahrene Halbmillionenstadt wie Duisburg ein Ereignis mit 1,5 Mio. Menschen organisieren und sichern könnten. Sie wurden als Miesmacher und Stimmungskiller zum Schweigen gebracht. Die Kritiker und Skeptiker störten die Selbstbesoffenheit der Kulturhauptstadt-„Macher“. Ein junger Mann, der der tödlichen Massenpanik um ein Haar entging, hatte die Polizei schon vor dem Desaster dringlichst gewarnt. Die Antwort der Polizei: „Willst DU das hier organisieren, oder was?“

20.30 Uhr. Die medialen Gebetsmühlen sind angeworfen, die offiziösen Krokodilstränenwerfer arbeiten voll Rohr. Mechanisch wird wieder von „Tragödie“ und „Tragik“ gelabert. Aber „tragisch“ nennt man unausweichliche Unglücksfälle. Das Desaster von Duisburg war keineswegs unausweichlich. Es war, wie gesagt, mehr als voraussehbar. Die Krokodilstränen werden bald wieder trocknen. Noch immer wummert die Parade der Floats aus 300.000 Watt-Anlagen.

20.45 Uhr: Die Schuldfrage ist schon geklärt. Die Verantwortlichen haben nicht die Verantwortung. Der frischgebackene (bislang in Duisburg wirkende) NRW-Innenminister Jäger findet in einem ersten Interview, die „Polizei“ habe „gute Arbeit gemacht“. Die Pressekonferenz der Stadt Duisburg findet, sie, die Stadt, die Behörden und die Planer  trügen keine Schuld; schuld seien vielmehr eindeutig die Opfer selbst, die sich nämlich „nicht an die Spielregeln gehalten“ hätten.

22.10 Uhr: Der Duisburger „Krisenstab„, namentlich der ganz offenbar Hauptverantwortliche, „Sicherheitsdezernent“ Wolfgang Rabe, schießt sich darauf ein, auf übelst demagogische Tour übrigens und mit steinern-zynischer Fresse, den jungen Todes-Opfern selbst die Schuld zu geben. Die hätten sich nämlich „irrational verhalten“. – Als hätte man nicht GENAU DAS zuvor einkalkulieren müssen! Als wäre es nicht die eindeutige Aufgabe der Sicherheitsbehörden, solch irrationales Massenverhalten – was bei Loveparade-Veranstaltungen ja vorkommen soll – eben vorauszusehen und im vorhinein (!) unmöglich zu machen! Was für eine ungeheuerliche Dreistigkeit den Opfern und ihren Familien gegenüber! Nebenbei: Immerhin sitzt in Duisburg z. B. das weltweit anerkannte und renommierte Fraunhofer Institut, das mit seinen Forschungen und Konzepten zur Steuerung und Sicherheit von Menschenmassen-Ansammlungen, bereits geholfen hat, etwa in Mekka die berüchtigten und gefürchteten Massenpaniken unter Pilgern fortan zu verhindern. Dort wird man das Wort „Risikoanalyse“ ja wohl eigentlich kennen. – Hat der Herr „Sicherheitsdezernent“  da nicht mal nachgefragt,vorher? Hatte er das nicht nötig, weil Massen ja bekanntlich immer  „den Spielregeln folgen“? *

(Nachtrag 26. 07. 2010: Inzwischen ist bekannt, daß der Professor für Physik des Transports, Prof. Michael Schreckenberg, sehr wohl in den Planungsstab „eingebunden“ war – was immer das konkret heißen mag. Seine nachträglichen Einlassungen wirken merkwürdig fahrig und unkonkret. Die spätere Todesfalle hatte er zumindest „im Vorfeld“ nie gesehen oder betreten. Welche Rolle die „Experten“ gespielt haben, ob man auf ihre Expertisen oder gar Warnungen gehört oder sie in den Wind geschlagen hat, wird erst noch zu klären sein. Immerhin war Prof. Schreckenberger der m. W. EINZIGE, der sich „von Schuld nicht freisprechen“ wollte…)

22.50 Uhr: Noch immer kreisen Kampfhubschrauber der Bundespolizei über Duisburg. Im Fernsehen verbreiten die unmittelbar oder politisch Verantwortlichen – schier unfaßbar kaltschnäuzig und arrogant der Herr Ex-WDR-Indentant und Kulturhauptstadt-Chef Fritz Pleitgen – geradezu haarsträubende Lügen bzw. Halbwahrheiten, um jede Verantwortung von sich zu wälzen Es ist wirklich unsagbar widerlich.  Ich glaube, ich war von dieser Politiker-Kaste schon lange nicht mehr derart angewidert und abgestoßen. Ein wahrhaft unsägliches, erbärmliches Schauspiel. Zum Speien.

23.03 Uhr: Plötzlich und noch immer ohne jede Erklärung (!) stoppt in der Party-Zone nun endlich, endlich, fünf Stunden nach dem Horror-Desaster, das Gewummer. Man spielt nun Meeresrauschen (!) ein und schickt die Leute sang- und klanglos nach Hause. Bis zu Stunde wissen noch immer Zigtausende junger Party-Gänger nicht, was überhaupt geschehen ist. So will es das sich selbst ohne Scham so nennende „Krisenmanagement„. Ich wußte gar nicht, daß die Richter-Skala des Zynismus nach oben dermaßen offen ist.

Für neunzehn junge Frauen und Männer ist die Party jedenfalls vorbei. Für immer.  – Selbst schuld, ja?

PS: Krododilstränenwerfer und erste kritsche Fragen hier:

http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/Das-toedliche-Unglueck-wirft-Fragen-auf-id3279049.html

Hier noch eine Zuschrift aus Maidenhead, London, UK:

Chris Irwin schreibt auf facebook

„It’s not over until the fat bastard(s) owns up.

By strange coincidence on Saturday evening, I was sat at the PC bellowing with laughter at a blog posting made by good mate, philosophy lecturer and scribe extraordinaire: Duisburg resident Reinhard Haneld (aka 6kraska6). A while later, I was prompted from my semi-slumbers during the evening TV news upon hearing the word ‚Duisburg‘ and began to see initial reports of this appalling state of affairs.
Knowing from his blog that he is not shy of attending the occasional odd venue/locale in the eternal pursuit of satisfying his curiosity and that of his ardent readers, I hasten computerwards to establish contact. I was relieved to learn pretty quickly that at least all is well in his household. His daughter set out to attend the party, but could not get in. His wife – a TV reporter – is out there at ground zero covering the carnage.
The following morning, I receive further news and see that he has posted a report listing the events and posing some very heavy questions about responsibility.
The report is available in German on the link (I might translate it later). It seems that person or persons hitherto unknown fucked up big time. The whys and wherefores will doubtless/possibly emerge eventually, not that this will be any consolation to those who are mourning young loved ones.“

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8 Kommentare - “The party goes on („selber schuld“)”

  1. philipp1112 Says:

    Mehr als eine Mio potenzieller Wähler, wer kann da schon NEIN sagen? WAHNSINN derer, die Verantwortung tragen müßten, diese aber sicherlich nach unten delegiert haben.

  2. Hazel Says:

    Mir geht es ganz genauso!
    Hast du gestern meine Graphik gesehen?
    http://tweetphoto.com/34675405
    Ich weiss, sie stimmt nicht 100%, weil ich meine Infos ja nur bruchstückweise aus dem Netz gefischt habe. Aber das Prinzip bleibt klar. In Berlin zog die Loveparade erst den Kudamm runter, und als absehbar war, dass ca. 1 Mio. kommen werden, wurde bewusst der Tiergarten gewählt.
    Ich hoffe so, dass die Verantwortlichen den Hut nehmen müssen. Alle!

  3. bunnyberlin Says:

    selbst von einem gesammelten rücktritt werden die toten nicht wieder lebendig. diejenigen, die die verantwortung tragen, WIE macht man sie wirklich verantwortlich? das ende einer beruflichen laufbahn ≠ ende eines lebens.

    zum kotzen.

  4. joulupukki Says:

    Danke für diesen Bericht!
    Irre, wenn auf Posten, die derart viel Verantwortung tragen, so offensichtlich viel Dilletantismus versammelt ist. Wie ist das möglich?

  5. meme Says:

    Ich habe mir immer gewünscht, dass meine Kinder beschützt würden, wenn ich nicht dabeisein kann, und habe selber immer nach diesem Grundsatz verfahren. Wie konnte das hier nur so grausam ins Gegenteil verkehrt werden ??


  6. Nach dem Drama wird die Verantwortungslosigkeit der Macher in Amt und Würden überdeutlich. Aber waren tatsächlich, wie Blogger vermuten, Tote als „Kollateralschaden“ mit eingeplant, und plant Duisburgs „Stadtvater“ sich selbst einen blitzenden Orden für vorausschauende Fürsorglichkeit anzuhängen? http://tinyurl.com/2ukrpgq

  7. David Winter Says:

    Ich war schon zu Berliner Zeiten kein großer Freund der Love Parade; nicht (ganz) meine Mucke, nicht meine Crowd. Aber ich verstehe und respektiere die Bedeutung, die sie für die Pop- und Jugendkultur hat. So derb die Musik, so nihilistisch die Selbstinszenierung auf Außenstehende wirken musste: Als Katalysator und Spiegelbild einer spaßorientierten, nicht erwachsen werden wollenden Gesellschaft ist sie die Party, die wir alle uns verdient haben. Dies – und nicht die Retro-Show Lollapalooza – ist/war das Woodstock des 21. Jahrhunderts. Man muss nicht hingehen, aber man kann damit leben.

    Wenn aber nun eine Stadt – welche auch immer – sich zum Ausrichten eben dieser Party berufen fühlt, haben die Eingeladenen ein Recht, das man sich *ernsthaft* um ihre Unversehrtheit bemüht. Dies ist kein Lemmingshügel für Suizidfreaks; zumindest nicht mehr als Fußballspiel oder ein Rockkonzert klassischen Zuschnitts. Es ist eine Veranstaltung, von der man mit ein paar Blessuren, verschwitzten Klamotten und einem beseelten Grinsen zurückkommen möchte. Lebend.

    Es kann natürlich immer etwas Schlimmes passieren, wenn Hunderttausende zusammenkommen – das war bei den Stones 1969 auch so. Aber es darf dann letzten Endes nicht nur deshalb passieren, nur weil ein paar geld- und profitgeile Selbstdarsteller und Gesinnungswichtel sich die Kohle für ein sauberes Konzept und dessen Umsetzung sparen wollten. Da müssen ein paar Profilneurotiker öffentlichkeitswirksam aus ihren Ämtern gekegelt werden.

    Man kann nicht einen Haufen Kids zu einer Party einladen, ihr Geld nehmen und – wenn sie dann im Keller zerquetscht werden – „Ich war’s nicht“ wimmern.

    Und dann noch etwas zu Eva Herman, die gerade mit Unterstützung des Kopp-„Verlages“ rechts der CDU Brownie Points für patriotische Gesinnung, Zucht und Anstand sammelt.

    Diese ohnehin unerträgliche Frau steht stellvertretend für alle, die die Moderne mit ihren Widersprüchen und Gefahren nicht einmal als Idee ertragen. Die sich ins Feinripphöschen machen, wenn sie Worte wie „Ambivalenz“ und „Pluralismus“ hören. Die sich immer wieder und immer noch eine(n) wünschen, der ihnen sagt, was sie tun und lassen sollen, was sich schickt und was nicht, weil sie Angst vor dem eigenen Hirn und Geschlechtsteil haben.

    Das alles ist bekannt. Was mir neu war, ist die enorme Zustimmung, die dieser Reichsanstandsblondine und Autobahnbauer-Bewunderin gerade in zahlreichen öffentlichen Foren hinterhergetragen wird. Das riecht nach der nächsten geistig-moralischen Wende; und dieses Mal soll wohl etwas schärfer rechts abgebogen werden.

    Man begebe sich z.B. (mit zugehaltener Nase) mal in die Kommentare der entsprechenden Artikel bei WELT Online. Mit Schaum vor dem Mund wird da ein Ende unsittlicher Umtriebe gefordert, ein paar (inzwischen gelöschte) Beiträge liefen darauf hinaus, dass man mit „diesen Toten da“ absolut kein Mitleid haben müsse. Und es gibt es teilweise vierstellige Zustimmungs-Klicks zu Beiträgen, die sich diese braungraue Hetzerin als nächste Kanzlerin wünschen.

    Ja, die würde schon dafür sorgen, dass Massenveranstaltungen zukünftig nur noch im Stechschritt stattfinden.

    Und der Beifall kommt von einem Haufen Spießer, die sich all die Jungen, Irren, Schwulen, Nackten, Vergnügten schon lange vom Hals wünschen, weil die Diskrepanz zur furztrockene Öde der eigenen, notdürftig abgesicherten Existenz nicht mehr aushalten. Zumal wir ja ohnehin wissen, dass alleine die 68er die Welt ruiniert haben; nicht etwa das alte Establishment.

    Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.


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