Das Menschsein / Autoreifen / Anenzephale Menschenfrösche
Trennungen und Scheidungen mögen das Dasein würzen, sie haben aber den Nachteil, daß man oft nicht nur Sorgeberechtigungen für Kinder, Hunde und Fahrräder, sondern auch bis zu 50% seiner Plattensammlung zurücklassen muß. Hinzu tritt erschwerend die sog. Altersvertrottelung, die nicht, wie der irreführende Name andeutet, „im Alter“ geduldig auf einen wartet, sondern schon mit den allerersten Filmrissen nach durchzechter Nacht ihr Zersetzungswerk beginnt, sodaß einem beispielsweise Bandnamen und Albumtitel komplett entfallen. Einfach weg, futschikato, leider unwiderruflich gelöscht!
Meine diversen Ex-Frauen werden natürlich den Teufel tun, anstatt mir mal auf die Sprünge zu helfen mit diesem einen Song, den ich in den 80ern besaß: Also, ich glaube, es war ein Duo; der elektronische Automaten-Beat ziemlich schlicht, technisch anspruchslos, und dazu greinte ein Mann in gedehntem, weinerlich-nörgelndem, näselnd-schnarrendem Grinzing-Wienerisch ungefähr folgende Zeilen:
„I wär sso gerrn aan Autoreifn,
i wär so gern a Bonbonnng,
i wär sso gerrn a Briefmarkn
i wär sso gerrn a Tresorrr,
norr das Menschsein,
das Meeeenschsein peinigt mich gar sehrrr.
Aan jedr Autoreifn hat an Profil (i hoab koaans, i hoab koaans)
Aan jedr Bonbonng hat G’schmack (i hoab koaan, ich hoab koaan)
A jede Briefmarken hat aan Ziel ( i net, i net)
A jedr Tresorr hat oan Geheimnis (i waas koans, i woas koans…)
Ja, das Meeenschsein, das Meeenschsein,
das peinigt mich gar sehrrr!“
Immerhin konnte ich mir diese Zeilen noch merken! Wahrscheinlich, weil’s stimmt: Menschsein peinigt! Nicht wie Zahnschmerz oder Liebesblues, sondern wie in dem einen Traum von mir, wo ich, als Sechsjähriger im Frotteeschlafanzug, unter Aufsicht von Professor Theodor W. Adorno im Kinderzimmer eine Philosophie-Klausur schreiben sollte, aber auf nur zweilagigem Toilettenpapier, mit abgebrochenen Wachsmalstiften, auf einem groben Sisalteppich als Schreibunterlage, und unten am Couchtisch warteten meine aufgeregten Eltern und tranken mit Adorno Portwein oder Stachelbeerlikör, weiß nicht mehr, kurz: eine kaum lösbare Aufgabe, ein hoffnungsloses Unternehmen! Menschwerdung: Vergiß es! Menschsein? Kaum denkbar. Menschbleiben: Schön wärs!
Um sich mal das ganze unsagbare Ausmaß des Jammers vor Augen zu führen, der katastrophalen Bedrohlichkeit und fortwährenden, eminent beängstigenden Gefährdung zerbrechlichen Menschseins, empfiehlt es sich, gerade für Hypochonder wie mich, den josefinischen Narrenturm in Wien inwändig zu besichtigen – genauer, die pathologisch-anatomische Sammlung, die man dort, im festungsähnlichen ehemaligen Irrenhaus von 1784, Interessierten zeigt: Ein melancholisches Panoptikum der Missbildungen und Verkrüppelungen, der Geschwüre, Infektionen und Tumoren, der Seuchen, Epidemien, Mangel- und Armutskrankeiten, aber auch der mörderischen Scharlatanerien und bestialischen Quacksalbereien, mit denen man einst, voll guten Willens und Gewissens, Kranke traktierte. Draußen das morbide Wien im Dauerregen, drinnen blasse junge Mediziner in weißen Kitteln, die dir mit wissenschaftlicher Leidenschaftslosigkeit (und im gedehnten Zentralfriedhofs-Wienerisch der Berufsmelancholiker) den Horror organischer Existenz präsentieren, die Schrecken von Rachitis, Tuberkulose, Syphilis, Lues und Lupus, Krebs und Beulenpest; lepröse Nekrosen, morose Karzinome, groteske Geschwülste, wucherndes, fressendes, faulendes Gewebe, in Weingeist oder Spiritus, als Schnittpräparat, Skelett oder Paraffin-Moulage von Körperteilen, die von eigens dafür angestellten Pathologen liebevoll mit den Symptomen unaussprechlicher Hautkrankheiten bemalt, bepustelt, gesprenkelt, gefleckt, gescheckt wurden. Dann weiter, die Herrschaften, immer Dr. Frankensteins gepiercten, bleichen Gehilfen nach. Der weiße Kittel sei das Fanal!
Regale voller Einweckgläser, Abteilung Missgebildete: Da schwimmen sie im imaginären Fruchtwasser grünlich trüber Traumlosigkeit: Anencephale Föten, hirnlose Menschenfrösche, blicklos ein-äugende Zyklopen-Babys, stumm versunken für alle Zeit im Abgrund zwischen Tod und Leben, kleine, sanfte Albtraumkarpfen, die das Menschliche knapp nur verfehlten, Nimmerlein-Aliens von Nirgendwo, wesenlose Schwebewesen, eingelegt in Vergangenheit, die nie Gegenwart wurde. – Und dort, in den Vitrinen: Namenlose Knochenqual, Skelettgrotesken, schaurig verdreht, verkrüppelt, rachitische Körperkarikaturen, die sich noch als Gebein wie in Höllenqual drehen, winden und die kleinen Krüppelfäuste schütteln gegen einen schweigenden Himmel und einen sadistischen Gott. Meine Damen und Herren – Das Menschsein! Ein Krampf, ein Gekröse, Gekrüppel und Gekrebse. Mann, Mann, mir wird blümerant!
Was die allgemeine Hinfäligkeit, Kränklichkeit und Skrofulösität des Organischen im allgemeinen, Hunger, Aremut und Dreck im besonderen nicht schaffen, den Rest also, den besorgten die Ärzte: Wenn sie die Kavernen tuberkulöser Lungen mit Amalgam (!) oder flüssigen Wachs verfüllten, wenn sie Kranke zu Tode röntgen oder vermeintlich renitente Irre mit Wasser-, Kälte- oder Zentrifugenfolter torturierten.
Wieder draußen. Mir war nach starckem Weinen. Ach, ach: Wir armen Menschen. Meine Tränen mischten sich mit dem niederösterreichischen Dauerregen. An diesem Abend mußte ich viel Wein trinken, bis ich breit war – wie ein Autoreifen. Das Menschsein!
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25. Juni 2009 um 8:06 PM
Au weia. Darauf irgendwas Starkes.
Warum schaut man sich das immer wieder an?
Sogar Kleinstädte haben solche Kabinette: http://www.qype.com/place/102222
Vielleicht ist es so schön, wenn der Schmerz nachläßt –?
8. Juli 2009 um 1:44 PM
hehe … Habt ihrs also noch in den Narrenturm geschafft! Fein – nächstes Jahr soll er ja renoviert werden, dann ist er außen sicher genauso tot wie innen 😦
27. Dezember 2009 um 6:19 PM
Hallo ! Ich weiß nicht wer diese Seite mit diesem Bericht erstellt hat- aber wenn ich lese wie abwertig man über solche Kinder spricht- geht mir das Messer in der Kippe auf.
Ich selbst habe am 25.01.2009 ein Mädchen mit Anenzephalie geboren. Ein Perfektrs Kleines Wésen was ich in jeder SEkunde des Augenblickes mit allen Sinnen vollkommen liebte !
wir gaben ihr den Namen Hope-Marie- sie schlief 40 Minuten nach ihrer Geburt- friedlich in meinen Armen ein. Ja sie sah von den Äglein ein bißchen aus wie ein Fröschlein… aber ich fand das überhaupt nicht schlimm…. sie war soo süß und auf ihre ganz eigene Art zu Perfekt. Ein Gotteskind- Ein Engelskind- was zu 100% von dieser Welt geliebt wurde- sowohl vor der Geburt- als auch bei ihrem Abschied.
Also sprich bitte nicht von Krüppeln oder sonstien.
Verkrüppelt sind nicht die Kinder mit Fehlbildungen und Makeln- sondern wir- die wir Blockaden im Herzen und im Kopf haben.
Ich hatte nicht das Recht den Todestag meiner Tochter zu bestimmen. Und ich bin so froh und dankbar mich für diesen Weg entschieden zu haben.
Wir haben uns Lebend gesehn,… Angeschaut,… gerochen und an den Händen angefasst.
Sie war ein Vollkommenes Gottesgeschenk, was dann wieder in den Himmel zog, um von dort auf uns achtzugeben.
Also bitte überdenke deine Denkens und Redensweise.
Kein Mensch hat es verdient- nach dem Tod so behandelt zu werden- egal welche Fehler und Augenscheinliche Makel er aufweist.
Oder möchtest du das jemand so über dich nach deinem Tod spricht?!
ich find das Mädchen nur zuckersüß….
MFG
Angi
31. Dezember 2009 um 12:16 AM
Liebe Angela,
Du wirst natürlich als persönlich Betroffene Texte ganz anders lesen als ich. Dafür habe ich Verständnis und allen Respekt. – Ich möchte nur gern darauf hinweisen, daß jeder, der mich und meine Art, zu schreiben, kennt, weiß: Ich schreibe über diese „Wesen“ (die für mich etwas Engelhaftes besitzen!) ganz sanft, melancholisch, andächtig und voller Respekt.
Vielleicht hat sich Dir das nicht so erschlossen, aber ich bin voller Mitgefühl – mit dem leidenden Menschen in jeder Hinsicht und Form.
Auch wenn ich im Stillen zweifele, ob Du mich da verstanden hast, danke ich Dir doch ehrlich für Deine offenen, mutigen Zeilen und wünsche Dir viel Kraft, das aufrechtzuerhalten, was Du bist! – Danke für Deine Zuschrift! Reinhard
23. Januar 2012 um 1:36 AM
Gottesgeschenk??? Diese Bestie, sollte es ihn denn geben, ist nicht der Gott der Liebe, sonder ein verachtenswertes…. RIESENARSCHLOCH. Amen.
10. Juli 2012 um 5:52 PM
wenn du nicht am Gott Glaubst,… oki.. aber deswegen muss man such noch lange nicht so Fikal-Sprechend unterirdisch primitiv dazu äußern ! Danke
23. August 2012 um 5:46 PM
ich pflichte Frau Rosenthal zu 100% bei! Kinder sind ein Gottesgeschenk, egal ob sie nun „der Norm entsprechen“ oder nicht. jedoch auch für mich klang der Eintrag sehr anstößig und so manche Ausdrucksweise gefällt mir nicht für derart wertvolle Wesen – unsere Kinder – seien sie nun perfekt oder nicht…
4. Januar 2013 um 4:17 PM
DANKE NICOLE !!!!
4. Januar 2013 um 9:04 PM
Ich kann mich Frau Rosenthal nur anschliessen….Auch mein Sohn hatte Anenzephalus…er wurde 6 Tage alt…Ich habe jede Sekunde die er bei uns sein durfte unbeschreiblich genossen und ihn abgöttisch geliebt ( das tue ich auch Heute noch) ..Diese Kinder sind ein ganz besonders Geschenk…. Natürlich kann da nicht jeder Mensch mit umgehen, viele haben nicht einmal den Mut oder gar die Kraft ihre Kinder überhaupt willkommen zu heissen…Es ist auch ein verdammt schwerer Weg ..aber ich bin unheimlich froh das ich mich damals nach der Diagnose entschlossen habe eben diesen für uns vorgesehenene Weg zu gehen (Seine Zwillingsschwester ist übrigens kerngesund)..die Eltern die es trotzall der widrigen Umstände tun haben grössten Respekt verdient…
An dem sehr primitiven Kommentar von Elli kann man allerdings sehen das es auch Menschen gibt die mit Hirn und Schädeldecke gesegnet wurden, damit aber leider garnichts anzufangen wissen…wie bemitleidenswert ….
19. Januar 2013 um 1:21 AM
Habe ich da was falsch verstanden? Bei Ellis Kommentar habe ich es so verstanden, dass Gott ein Riesenarschloch ist. Bei all dem Schlimmen was so auf der Welt passiert kann ich ihr diese Haltung nicht verdenken.
Ich persönlich finde es schrecklich, dass manche Kinder schon so schnell sterben müssen. Andererseits ist dies Besser als Jahrelang zu Leiden. Man wünscht doch allen werdenden Eltern ein gesundes Baby, dass gross wird und es möglichst einfach hat.
31. März 2013 um 3:57 PM
Ich bin zufällig auf diese Seite geraten auf der Suche nach dem Text von eben diesem Lied der Gruppe Weltschmerz. Ich erblickte die Bilder der „eingelegten“ „Mißgeburten“ und war abgestoßen von der Respektlosigkeit, die darin zum Ausdruck kam. Danach versuchte ich den zughörigen Text zu lesen. Nach einem Drittel gings nicht mehr. Diese Pseudointellektualität mit möglichst verquaster Wortwahl und Satzbildung … Der Verfasser leidet offenbar nicht seinem unter Menschsein!
Die Beiträge von Angela Rosenthal und Maexchen von Muster machten mich weinen. Ich weiß nicht, ob ich den Mut und die Kraft hätte. Ich danke Ihnen beiden für den Ausdruck innigster Liebe, die in jedem Wort spürbar ist. Nicht romantisch verklärte Liebe, sondern bedingungslose Liebe im vollen Bewußtsein der harten Wirklichkeit und was geschehen wird. Liebe macht nicht blind sondern hellsichtig.