Perverse Universen (2)
WEITERES VON VAMPIREN IN PERVERSEN PARALLELUNIVERSEN
Prinzipiell kann man nie willentlich, sondern immer nur versehentlich und durch Zufall in ein Paralleluniversum geraten. So wie die Frau in dem einen Film da, wo sie bei der Besichtigung einer Filmstadt die Toilette sucht und plötzlich in eine wild-west-mäßige Saloon-Schießerei gerät. Trotzdem, früher war solches Realitätsflackern irgendwie seltener. Die „Wände“ oder Membrane, welche die verschiedenen Paralleluniversen trennen, sind seither immer dünner geworden – durchs Internet aber sind sie nun so gut wie nicht mehr vorhanden: Heute wohnt praktisch jeder von uns zwei Mausklicks vom nackten Wahnsinn entfernt! Bevor ich jedoch von der Welt der Sanguinarianer berichte, hier kurz ein paar Grundlagen.
Um 1725 verfaßte ein gewisser Michael Ranft ein Buch, das ich ja gern in meiner Bibliothek hätte: „Dissertatio historico-critica de masticatione mortuorum in tumulis“, was aus dem Küchenlatein der Zeit ins Deutsche übersetzt bedeutet: „Vom Kauen und Schmatzen der Leichen in den Gräbern“. Huuaarrrrgs! Da läufts einem doch schon eiskalt den Rücken herunter, oder?! Der Autor wollte mit seiner Schrift aber aufklären: Daß nämlich gar nichts Grusiges dran sei an der Geschichte aus Kislova! In diesem Dorf in Nordbosnien ereignete sich 1724 nämlich eine rätselhafte Epidemie. Inert acht Tagen starben neun Dorfbewohner – und alle hatten auf dem Totenbett zuvor ausgesagt, im Traum sei ihnen der Plagojevic-Peter erschienen und habe sie böse am Hals gewürgt! Nun war aber das Subjekt Plagojevic bekanntermaßen schon zehn Wochen lang vollkommen tot und begraben! Wie ging das zu? Vorsichtshalber gruben die Dörfler des schlimmen Peters Grab auf – nun, er war noch da, aber, denkt euch, frisch wie zu Lebzeiten, unverwest, rosig, mit Blut an den Lippen, nur die Haare und die Nägel waren gewachsen und machten einen etwas ungepflegten Eindruck! Der Kameralprovisor (Ach! gab es in der K.u.K. Monarchie schöne Beamtentitel!) Frombald, der den Fall untersuchte, stellte fest, die Dorfbewohner hätten den offenbar untoten Deliquenten Plagojevic der Sicherheit wegen gepfählt und dann verbrannt – was sich seither bei Vampiren empfiehlt und gewißlicher wirkt als Knoblauch und Bekreuzigungen.
Weil das gemeine Volk aber gern bissl blöd ist und das agrarische Leben oft langweilig, störte man sich an den von Kaiserin Maria Theresa entsandten Aufklärern nicht weiter, sondern strickte stattdessen eifrig am Vampir-Mythos, der Südost-Europa wie eine Epidemie überrollte. Groschenheft-Autoren strickten weidlich mit, bis der irische Schriftsteller Bram Stoker 1897 mit seinem Weltbestseller „Dracula“ dem gemeinhin verbreiteten Vampir die endgültge, noch heute verbindliche Gestalt gab, die blutsaugerisch und lichtscheu durch zahllose Bücher und Filme geistert. So weit, so gut, den Rest wißt ihr. Das folgende aber vielleicht nicht.
Wenn man wie ich an der Wikipedia-Uni studiert (lebenslanges Lernen! Jetzt auch für Senioren!), kann man sich bei Recherchen leicht zu Links locken lassen, von deren Inhalt man nicht die geringste Vorstellung hatte! Einmal geriet ich bei einer harmlosen – erkältungsbedingten – Recherche über Ingwer-Tee auf eine Seite, auf der mir ungefragt, aber bereitwillig erläutert wurde, daß man etwa unter dem Begriff „figging“ die sadomasochistische Praktik verstünde, einen frisch geschälten, speziell zurechtgeschnitzten Ingwer-Pflock in den Anus des geschätzten submissiven Sexualpartners zu stopfen;was dies auslösen soll, überlasse ich gern der Phantasie geneigter LeserInnen; selten jedenfalls habe ich eine detailliertere Folter-Anleitung lesen, und natürlich bis zum Ende, denn ich bin extrem neugierig, und, obwohl stolz auf einen rechhaltigen Erfahrungsschatz zurückblickend, muß ich gestehen, mir war diese eigenwillige, wenngleich natürlich vorbildlich biologische Form von Zuneigungsbeweis völlig fremd, oder, hier kann ich einen indezenten Ausdruck leider einmal einfach nicht unterdrücken: Diese Praktik war mir 40 Jahre lang am A…. vorbeigegangen!) – Ähnliches kann ich auch von der Welt der Sanguinarianer sagen.
Zunächst einmal ist dies ein wunderschönes Wort, finde ich. Vokalreiche Wörter faszinieren mich total! Einmal hab ich fast eine Knoblauch-Vergiftung bekommen, bloß weil ich das Wort „Aioli“ so liebte! (Auch schön: adagio! Oder: Oboe!) Außerdem klingt „Sanguinarianer“ ein bißchen wie ein Indianerstamm oder nach einer speziellen spätantiken Gnostiker-Sekte aus dem indo-iranischen Kulturraum oder… – aber nein, nein, es handelt sich dabei definitionsgemäß um Leute, die „den Vampirismus als Lebensstil pflegen“, d. h. seis aus Leidenschaft und Wahn, seis aus Leckermäuligkeit und fehlgeleiteter Feinschmeckerei, gern Blut trinken, am liebsten frisches Menschenblut. Als Philosoph und gebildeter Zuschauer einschlägiger Thriller („Das Schweigen der Lämmer“, „Hannibal“) gerate ich darüber erstmal noch gar nicht in Wallung, denn ich habe sogar schon über Kannibalismus gelesen und sage daher galant: Pah, chaqu’un à son goût!
Was mich aber dann doch im Sinne paralleluniverser Irritation verwunderte, war die Entdeckung, daß die Szene der sanguinarianischen Bluttrinker nicht nur eine wohl organisierte, disziplinierte Subkultur – ein Abkömmling von SM- sowie Gothic-Szene – besitzt, sondern daß es sich bei ihnen offenbar auch um ganz reizende, überaus liebenswerte Menschen handelt, die höchsten ethischen Anspüchen gerecht zu werden versuchen. Seit mehr als zehn Jahren folgt man einer Art Carta („The Black Veil“, = Der Trauerschleier), die mir klarmacht, warum ich bislang noch nie von Sanguinarianern gehört habe: Man untersagt ihnen, in Talk-Shows zu gehen oder sonstwie öffentlich Krawall zu machen; man empfiehlt Toleranz, Diskretion und Dezenz, gesundheitsbewußtes Bluttrinken, familiäre Werte, Solidarität, Unauffälligkeit, Gewaltlosigkeit, Freundschaft und Teilnahme am Gemeinschaftsleben. Die Schlußpassage ist so schön, daß ich Lust bekam, einen Mitgliedsantrag bei den Blutdurstigen zu stellen! Da heißt es etwa (Übersetzung aus dem Engl. von mir):
„Vampir zu sein ist keine Ernährungsweise. Das betrifft nur, was wir tun, nicht was wir sind. Unsere Aufgabe ist es, die Dunkelheit zu repräsentieren in einer von Licht geblendeten Welt. Unsere Bedeutung ist, anders zu sein, und dieses Anderssein zu akzeptieren macht uns stark und einzigartig. (…) Unser Leben sollten wir als Botschaft an die Welt leben – über die Schönheit, sein ganzes Selbst anzunehmen, ohne Schuld und Scham zu leben und das einzigartige und wunderbare Wesen jeder einzelnen Seele zu feiern.“ – Irgendwie doch süß, oder? Oder? Darauf ein gutes Tröpfchen!
Und nicht vergessen: Nur zwei Mausklicks von eurer Normalität entfernt entfalten sie ihre schillernde Pracht: die perversen Paralleluniversen…
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27. April 2009 um 6:57 PM
Nicht dass du demnächst bei der zufälligen Anwahl einer Seite im Paralleluniversum der eigenartigen Sexualpraktiken auf einim Auftrag von Zensursula vom BKA aufgestelltes Stoppschild gerätst, das deine IP-Adresse in Echtzeit zum BKA überträgt und dann die Duisburger Polizei zur Beschlagnahme deines Rechners ausreiten lässt, was dich in ein ganz diesseitiges Universum zurückbeförderte. Kein Surfen ohne Rechtsberater! Es ist gruselig.
27. April 2009 um 10:44 PM
Vilmos, Dein Wort in aller Ohr.
http://www.golem.de/0904/66730.html
— da herrscht noch tiefstes Mittelalter.
Ich aber werde, Kraska, Ingwertee nie wieder ins Auge blicken können, ohne an diesen Artikel denken zu müssen.
27. April 2009 um 11:01 PM
@alle: Ehe hier irgendwelche Mythen entstehen: Weder surfe ich durchs Netz, um exotische Sexualpraktiken zu sammeln, noch habe ich irgendwelche kinderpornographische Interessen – sexuell finde ich Kinder in etwa so interessant wie Pinguine oder Bisamratten. Ich sag das hier sicherheitshalber mal – man kann ja nie wissen, wer alles mitliest.
@donqy: Das Geld häzze Dir sparen können – das Buch hätt ich Dir geliehen. Evtl. sogar geschenkt.
@lakritze: Sorry, das tut mir jetzt leid. Alternativ empfehle ich koreanischen Ginseng-Tee, der m. W. nicht zu irgendwelchen Absonderlichkeiten genutzt wird. Oder? Oder?
28. April 2009 um 6:48 AM
Deine Absichtserklärungen sind schön, aber helfen nicht, wenn das BKA unter Aufhebung der Gewaltenteilung und ohne demokratische Kontrolle als Zensurbehörde auftritt. Auf den Sperrlisten stehen demnächst noch ganz andere Seiten als nur „Pädokrimininelles“. Was von der Leyen, Schäuble und Zypries da unter dem Vorwand der Verfolgung der Kinderpornografie derzeit auf den Weg bringen, ist erheblich gefährlicher für die Gesellschaft als das, was die christlichen Hassprediger jemals werden bewirken können.
28. April 2009 um 10:09 AM
@vilmos: Ich weiß, ich weiß. Ich persönlich bin eh seit meinem 18. Lebensjahr gespeichert. Und neulich, wie ich hörte, erst wieder, weil ich mich erdreistet habe, auf die offizielle Homepage des BKA zu gehen. Weil die Schlapphüte denken, jeder, der ihre Seite besucht, könnte ja vielleicht Dr. Hannibal Lecter ein, oder Oma bin-im Laden.
28. April 2009 um 12:25 AM
kraska, die Ginsengwurzel, die Ginsengwurzel, die hat es schon von der Form her in sich…