Warum starb Billie Joe McAllister?


800px-tallahatchie_bridge-hwy_7_mississippi

Das ist sie, die mythische Tallahatchie-Bridge in Marshall County, MS, USA

  • Es gibt Songs, die hörst du ein paar Mal und bekommst sie nie mehr aus dem Kopf. Dieser gehört zu den ewigen 500 besten Popsongs, heißt es, und über seine Bedeutung wird noch heute, 42 Jahre nach der Veröffentlichung, in Internetforen debattiert. Dieser eine, einzige Song hat eine gewisse Roberta Streeter, ein Landei aus Chickasaw County, Mississippi, USA, unsterblich gemacht. Unter ihrem Künstlernamen Bobbie Gentry hatte die blutjunge, attraktive Singer/Songwriterin Stimmungen aus ihrer Teenagerzeit verarbeitet – es entstand eine Alltagsballade, durch die, fast beiläufig, und nur in Andeutungen eine geheimnisvolle Südstaaten-Tragödie schimmert.

ODE TO BILLIE JOE

Eine träge, ostinat dahinstolpernde Bluegrass-Melodie auf der akustischen Gitarre, unheilschwanger absteigende chromatische Violinakkorde, dazu diese unglaubliche Stimme: Von Staub und Hitze heiser, sonnengeschwärzt, Mississippi-Blues-geschult, voller verstockter Sehnsucht und lakonischer Teenager-Trauer erzählt ein Farmermädel aus dem Delta die Geschichte vom Selbstmord des jungen Billie Joe McAllister…

It was the third of June, another sleepy, dusty Delta day
I was out choppin‘ cotton and my brother was balin‘ hay
And at dinner time we stopped and walked back to the house to eat
And Mama hollered out the back door „y’all remember to wipe your feet“
And then she said „I got some news this mornin‘ from Choctaw Ridge“
„Today Billy Joe MacAllister jumped off the Tallahatchie Bridge“

’n‘ Papa said to Mama as he passed around the blackeyed peas
„Well Billy Joe never had a lick of sense, pass the biscuits, please“
„There’s five more acres in the lower forty I’ve got to plow“
’n‘ Mama said it was shame about Billy Joe, anyhow
Seems like nothin‘ ever comes to no good up on Choctaw Ridge
And now Billy Joe MacAllister’s jumped off the Tallahatchie Bridge

’n‘ Brother said he recollected when he and Tom and Billie Joe
Put a frog down my back at the Carroll County picture show
And wasn’t I talkin‘ to him after church last Sunday night?
„I’ll have another piece-a apple pie, you know it don’t seem right“
„I saw him at the sawmill yesterday on Choctaw Ridge“
„And now ya tell me Billie Joe’s jumped off the Tallahatchie Bridge“

’n‘ Mama said to me „Child, what’s happened to your appetite?“
„I’ve been cookin‘ all morning and you haven’t touched a single bite“
„That nice young preacher, Brother Taylor, dropped by today“
„Said he’d be pleased to have dinner on Sunday, oh, by the way“
„He said he saw a girl that looked a lot like you up on Choctaw Ridge“
„And she and Billy Joe was throwing somethin‘ off the Tallahatchie Bridge“

A year has come ’n‘ gone since we heard the news ‚bout Billy Joe
’n‘ Brother married Becky Thompson, they bought a store in Tupelo
There was a virus going ‚round, Papa caught it and he died last Spring
And now Mama doesn’t seem to wanna do much of anything
And me, I spend a lot of time pickin‘ flowers up on Choctaw Ridge
And drop them into the muddy water off the Tallahatchie Bridge…

odetobillyjoe

Mit 23 zum Welt-Hit: die portugiesisch-stämmige Roberta Streeter al. Bobbie Gentry

Also in etwa, ganz grob ins Deutsche skizziert:

Es war der dritte Juni, irgendso’n träger, staubiger Delta-Tag
Ich war draußen, Baumwollpflücken, mein Bruder bündelte Heu,
Zur Abendbrotzeit machten wir Schluß und gingen heim zum essen,
Und Mama rief aus der Hintertür: „Schuhe säubern nicht vergessen“
Und dann sagte sie: „Ich hörte heute morgen Schlimmes aus Choctaw Ridge:
Heute sprang Billie Joe Mc Allister von der Tallahatchie Bridge“

Und Papa sagte zu Mama, als er die Bohnen herumgab: „Tja, na, Billie Joe
Der hatte ja auch nicht für’n Groschen Grips – gib doch mal das Brot,
Ich hab noch fünf Morgen an den unteren Vierzig unterm Pflug“,
Und Mama sagte, es sei doch trotz allem schade um Billie Joe,
Und es käme, scheint’s, nie nichts Gutes über Choctaw Ridge
„Und nun springt auch noch Billie Joe McAllister von der Tallahatchie Bridge!“

Und Bruder sagte, er wüßte noch, wie er und Tom und Billie Joe
Mir mal einen Frosch auf den Rücken setzten, beim Kinder-Kino in Caroll County,
Und ob ich nicht letzten Sonntagabend nach der Kirche noch mit ihm geredet hätte?
„Ich hätte gern noch ein Stück Apfelkuchen, – weißt du, mir wills nicht in den Kopf,
Da seh ich ihn doch gestern noch, an der Saatgutmühle bei Choctaw Ridge
Und jetzt sagste, Billie Joe McAllister sprang von der Tallahatchie Bridge?“

Und Mama sagte zu mir „Kind, was ist denn mit deinem Appetit?
Ich hab den halben Tag gekocht, und du rührst nicht einen Bissen an!
Der nette junge Pastor, Brother Taylor, kam heute vorbei,
Er kommt nächsten Sonntag gern zum Dinner, und, ach ja,
Er sagte, er sah’n Mädel, das dir ganz ähnlich war, bei Choctaw Ridge,
Und die und Billie Joe warfen etwas von der Tallahatchie Bridge…“

Ein Jahr kam und ging vorbei, seit wir das hörten über Billie Joe,

Brüderchen heiratete Becky Thompson, und sie kauften ’n Laden in Tupelo,
Da gabs’n Virus hier, den fing Papa sich ein und starb letztes Frühjahr,
Und Mama hat jetzt zu nichts mehr richtig Lust,
Und mir, na ja, ich verbring ne Menge Zeit damit, Blumen zu pflücken bei Choctaw Ridge,
Die werf ich dann ins schlammige Wasser unter der Tallahatchie Bridge…

Choctaw Ridge, Caroll County und Tupelo, Mississippi existieren wirklich. Auch die Brücke, die zwischen Holly Springs und Oxford den Tallahatchie River überspannt, kennt man. Sie erwarb 1955 bei den Rassenunruhen anläßlich der Einführung gemischt-rassischer Schulen traurige Berühmtheit als Schauplatz des rassistischen Lynchmords an dem 14-jährigen schwarzen Teenager Emmet Till aus Chicago, Illinois, der zu Verwandten-Besuch am Mississippi war. Bob Dylan hat der grausamen Geschichte später einen Song gewidmet, in dem es heißt:

„’Twas down in Mississippi no so long ago,
When a young boy from Chicago town stepped through a Southern door.
This boy’s dreadful tragedy I can still remember well,
The color of his skin was black and his name was Emmett Till

Die schwarze Bürgerrechtlerin Anne Moody, die im Mississippi-Delta aufwuchs, erzählt in ihrer Autobiographie:

Up until his [Emmett Till’s] death, I had heard of Negroes found floating in a river or dead somewhere with their bodies riddled with bullets. But I didn’t know the mystery behind these killings then. I remember once when I was only seven I heard Mama and one of my aunts talking about some Negro who had been beaten to death. „Just like them low-down skunks killed him they will do the same to us,“ Mama had said. When I asked her who killed the man and why, she said, „An evil spirit killed him. You gotta be a good girl or it will kill you too.“ So since I was seven, I had lived in fear of that „Evil Spirit.“ It took me eight years to learn what that spirit was.“

[„Bis hin zu Emmet Tills Tod hatte ich schon von Schwarzen gehört, deren Leichen im Fluß trieben oder irgendwo lagen, durchbohrt von Kugeln. Ich wusste indessen nicht, was für ein Geheimnis hinter diesen Tötungen steckte. Ich erinnere mich, ich gerade sieben Jahre alt, da hörte ich Mama und eine meiner Tanten über einen Schwarzen reden, den man tot geprügelt hätte. ‚Wie die dreckigen Stinktiere ihn gekillt haben, so werden sie es mit uns tun’, hatte Mama gesagt Als ich sie fragte, wer den Typ getötet hätte und warum, sagte sie, „ein böser Geist hat ihn getötet. Sei ein braves Mädchen, sonst killt er dich auch!“ Deshalb habe ich, seit ich sieben war, in Angst vor diesem ‚Bösen Geist’ gelebt. Ich brauchte acht Jahre, um zu kapieren, was das für ein Geist war.“]

Bobbie Gentry wird zumindest gerüchteweise vom düsteren Ruf der Tallahatchie-Brücke gehört haben. Die literarisch hochbegabte junge Frau evoziert die Atmosphäre im ländlichen Delta-Gebiet mit beängstigender Prägnanz: Hitze, Staub, schwere, schweißtreibende Arbeit auf dem Feld, die lähmende Langeweile zwischen sonntäglichem Kirchbesuch und gelegentlichen Kino-Vorführungen in der Kreisstadt, die wortkargen Beiläufigkeiten beim Abendessen der Familie, die latente Gewaltbereitschaft, die schwelenden Rassenkonflikte, die Erotik und die Todessehnsucht sensibler Teenager.

Ein Tagtraum zwischen Trauma und Wunscherfüllung, kunstvoll in der Schwebe gehalten: Warum hat Billie Joe McAllister sich umgebracht? In welcher Beziehung stand die Erzählerin zu ihm? Hat sie ihn tatsächlich nach der Kirche getroffen? Und vor allem, bis heute unter Fans hitzig diskutiert: Was, zum Teufel, haben denn die beiden von der Brücke geworfen? War es ein Ring, eine Puppe, gar die (tote) Leibesfrucht einer ungewollten oder abgebrochenen Schwangerschaft? Waren Billie Joe und die Erzählerin also ein Paar? Oder ist, schrecklicher Gedanke, der McAllister-Junge … etwa schwarz gewesen – und somit das ganze eine „Southside Story“, die Andeutung einer Südstaaten-Romanze à la Romeo-und-Julia?

Pete Seeger, Amerikas berühmtester Folksinger neben der Legende Woody Guthrie, hatte seine eigene, recht bitter-sarkastische Theorie über das Geheimnis des Brückenwurfs:

„March 1968… „Life“ Magazine showed a full-page photo of long-haired Bobbie Gentry walking across the Tallahatchie Bridge, which figured in her song, „Ode to Billie Joe.“ And some of us did a double take. The location is Money, Mississippi — a mile or two from where Emmett Till’s body was found! Last year, there was a joke among black Americans. They knew what was thrown off that bridge.“

[„Im März 68 … zeigte das Life-Magazin ein ganzseitiges Foto der langhaarigen Bobbie Gentry, wie sie über die Tallahatchie-Brücke geht, die in ihrem Song ‚Ode to Billie Joe’ vorkommt. Einige von uns erlebten eine Art Überblendung: Der Schauplatz ist Money, Mississippi – ein oder zwei Meilen entfernt von der Stelle, wo man Emmett Tills Leiche fand. Letztes Jahr (i. e. als Bobbie Gentry’s Song herauskam, Kraska) kursierte ein Scherz unter jungen schwarzen Amerikanern: Sie wussten, was von der Brücke geworfen wurde…“]

Man hat es nie herausgefunden, das Geheimnis um Billie Joe McAllister. In jedem zweiten Interview wurde Bobbie Gentry danach gefragt, doch sie verschwieg keinen mysteriösen Zusammenhang, wenn sie verlegen die Schultern hob: Sie wusste schlichtweg tatsächlich nicht, warum Billie Joe sich umbrachte, oder was von der Brücke geworfen wurde. Darüber hatte sie beim Schreiben nicht nachgedacht, es war ihr nicht wichtig.

Ihr ging es wohl nur um die Beschwörung einer jener aus Gerüchten, Mystifikationen und eigenen Phantasien gespeisten Jugendempfindungen, die fast alle von uns kennen, die einmal einige Jugendjahre in der Provinz verbracht haben, halb kirre vor Langeweile und Sehnsucht.

Werbung
Explore posts in the same categories: Auf die Ohren! Fertig! Auf die Ohren!, In memoriam..., It's a women's world

4 Kommentare - “Warum starb Billie Joe McAllister?”

  1. Norbert Jäger Says:

    Ach wie schön, wie immer toll geschrieben. Ich glaube, jetzt gehen die letzten weg von qype. Ist ganz schöne Aufruhr

    http://www.qype.com/review/840430

    Na ja, seitdem ich zwei Blogcounter habe, weiß ich, dass wir alle sofort identifizierbar sind.

    Na schaun mer mal

  2. oachkatz Says:

    Ich kenne das Lied aus meiner Kindheit – habe nie gewusst um was es geht, noch es in den letzten 10-15 Jahren irgendwo gehört. Dafür habe ich heute einen nicht unumwunden begeisternden Artikel in der taz über Lernen im Web 2.0 gelesen. Jetzt weiß ich, was sie meinten….

  3. vilmoskörte Says:

    Danke für die Erinnerung. Davon habe ich gleich mehrere Aufnahmen in meiner Plattensammlung, habe gerade mal wieder den ollen analogen Lenco angeworfen und hier (iTunes Links) hereingehört …


Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s


%d Bloggern gefällt das: