Triviale Tragödie: Tränen-Trash
EINWURF EINES UNMENSCHEN
Wie ein Schwarm Rabenkrähen auf einem frisch gepflügten Acker, so fiel die Medienmeute in Winnenden ein, nachdem dort ein 17-jähriges soziopathisches Milchgesicht namens Tim Kretschmer 15 junge Menschen und sich selbst mit der großkalibrigen Beretta seines Vaters niedergemäht hatte. Die Meute kam trotz aller Hast, nebbich, zu spät: Der Junge hatte sein schulisches Massenmordprojekt nicht mediengerecht vorher angeteasert, und so war bei Drehbeginn leider alles schon gelaufen: Opfer und Täter tot, Schule geschlossen, die Blutlachen abgedeckt. Mist. Was jetzt? Nun, am besten the same procedure as in every other case of stand-up-tragedy…
Da ich, unverdient und unwillentlich, über Insider-Wissen verfüge, kann ich mir lebhaft vorstellen, wie auf den Redaktionsfluren und in den TV-Studio-Büros die Hölle losbrach. „Kinder… das Amok-Drama! Was machen wir dazu? Dazu müssen wir sofort was machen! Was haben wir? Was kriegen wir denn? Kriegen wir Bilder? Kriegen wir O-Töne? Haben wir Nachbarn, Augenzeugen, blutende Opfer? Wenigstens einen Sanitäter oder Seelsorger? Oder zumindest einen bedröppelten Waffenhändler? Was ist – haben wir schon den Psychologen kontaktet, den wir in solchen Fällen zuschalten? Sonst irgendwelche Experten? Für irgendwas? Los, los, Kinder! RTL hat’n Statement von einer dramatisch verheulten Lehrerin, und Sat1 soll einen alten Tischtenniskumpel des Amokläufers exklusiv eingekauft haben, heißt es! Wir müssen das toppen! Wenn wir nichts Verschärftes kriegen, haben wir die Quote im Keller! Also, zackzack, Leute, laßt euch was einfallen..“
Übelkeit hin oder her, ich lasse mich durchinformieren. Gleich zehn Fernseh- und dreiunddreissig Radio-Sender versprechen mir unisono, „Reaktionen der Nachbarn und Anwohner“ in Winnenden, Stunden nach dem Massenmord, „einzufangen„. „Nu, was wird sein?“ denke ich still, „jubeln werdens halt, tanzen und springen und Plakate malen mit Aufschriften wie „Endlich knallts mal!“, „Unser Timmy hats allen gezeigt“ oder „Wir sind stolz auf Dich, Tim“ – zu meiner totalen Überraschung melden mir aber einhundertfünfzig Korrespondenten, Reporter und Interviewer direkt vor Ort, noch atemlos von der Recherche, gleichlautend, man sei mehrheitlich vielmehr „entsetzt„, „erschüttert“ oder wahlweise gern auch „fassungslos„. – Ach was! Wer hätte sich das denken können ohne die Massenmedien! – Am Morgen darauf, es ist gerade 6.00 Uhr, verspricht mir das ARD-Morgenmagazin einen life-Korrespondentenbericht darüber, „wie die Stadt heute aufwacht, am Morgen nach der grauenvollen Bluttat“. Wieder ist die Spannung kaum auszuhalten! Werden die Dörfler sich wohl fröhlich an den Händen halten, lachend Scherzworte tauschen und sich singend Wiesenblumen ins Haar winden– am Morgen nach dem „entsetzlichen und abscheulichen Gewaltverbrechen“? Wieder falsch geraten! Überwiegend kriechen die Anwohner bleich, verstört, elend und mit geröteten Augen aus den Betten, nach durchwachter Nacht. Gut daß ein „Korrespondent“ diesen Eindruck direkt eingefangen hat!
Ach, die Medienleute kennen meinesgleichen, sie wissen, sie haben uns abgestumpft. Schon lange haben wir keine Tränenressourcen mehr für die Massen von Nachrichten-Toten, die uns täglich serviert werden, zum Frühstück, zur Vesper und zur Nacht – Tote im Kongo, in Ruanda, Zimbabwe oder Dafur, im Irak, in Afghanistan, Pakistan oder Sri Lanka, in Tibet, Kolumbien, NahOst oder Haiti. Menschen, verhungert, vergiftet, erschossen, verbrannt, ertrunken, von Bomben zerfetzt. Todesopfer halt, täglicher Blutzoll an die Natur, vor allen an die Natur des Menschen. (Schlug der Tod in der Ferne zu, sagt der Nachrichtensprecher: Ob sich auch Deutsche unter den Opfern befinden, ist noch nicht bekannt. – Ist das jetzt gut oder schlecht? Und wären deutsche Opfer beklagenswerter als andere?)
Wer abstumpft, droht aus dem auszutreten, was der Philosoph Peter Sloterdijk „die nationale Erregungsgemeinschaft“ nennt, und das ist schlecht, weil er dann für die Medien nicht mehr erreichbar ist. Also muß man uns aus dem Stand volle Kraft ins Ohr brüllen: „Unfassbare Tragödie!“ „Entsetzen lähmt alle!“ „Fassungslosigkeit unter den Eltern!“ „Tragisches Blutbad… die Hölle von W…“, na ja, ihr werdets auch gehört haben. Nun ist selbst das Massaker von Winnenden, tut mir leid, liebe Medien-Emos, im Grunde eben gerad keine Tragödie, da die Opfer weder sich der Hybris, der Selbstüberhebung gegen die Götter, schuldig gemacht haben, noch von ihrem „Schicksal“ ereilt wurden, als sie ihm gerade zu entfliehen suchten. Der gewaltsame Tod der jungen Leute ist, ja: schlimm, stimmt traurig, ist so sinnlos, wie brutal-gewaltsame Tode Jugendlicher meistens sind. „Unfaßbar“ ist er indessen keineswegs – würden die zigtausend selbsternannten Trauerbegleiter, Psycho-Sozialpädagogen und Video-Spielkundler mal für einen Moment die unentwegt ratternde Klappe halten, könnte man die auslösenden Faktoren und die Möglichkeitsbedingungen des Falles schon analysieren. Aber das will ja gar keiner…
Ich kann dieses theatralische, medial inszenierte Barmen, Wimmern, Händeringen und Haareraufen nicht mehr sehen; ich kann das aktionistische Geschwätz der Politiker und Verbandslobbyisten nicht mehr hören; und das unterkomplexe, inkompetente Gesäusel der verquasten Psycho-Heinis mit ihren 60er-Jahre-Theorien (W. Schmidtbauer et al.) macht mich derart kirre, also, ich könnte…. – was?
Etwa Amok laufen? Nein, nein, keine Sorge, in meiner alten Schule muß man den Dornröschenschlaf nicht unterbrechen, da darf man weiterschnarchen. Aber der Fernseher wird irgendwann dran glauben müssen, schätz ich.
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14. März 2009 um 12:16 AM
Bravo! Ich habs schlichtweg, bis auf eine Diskussionsrunde im SWR, verweigert. Da geschehen Suizide in der Öffentlichkeit, die also auf Öffentlichkeit basieren, um mit möglichst vielen Opfern zu schockieren – und was gibt man Ihnen? Möglichst viel Öffentlichkeit, damit der vermeintliche Heldenmythos in den Augen der nächsten Amokläufer auch gut gedeihen kann.
Nö, danke, interessiert mich nicht.
p.s.: das Vid ist unerträglich. Beinahe war mein Brechreiz schneller als der Klick auf die Pause Taste. Fies sowas!
14. März 2009 um 2:00 AM
14. März 2009 um 9:38 AM
Ein, mir bekanter 15jähriger hatte gestern in der PoWi- Stunde Amokdiskussion, zu der er beitrug, dass er erst bereit sei, Betroffenheit zu zeigen, wenn die Welt minütlich bereit sei, das gleiche Maß an Betroffenheit und mediale Aufmerksamkeit einem verhungernden afrikanischen Kind zu schenken.
Die Lehrerin entgegnete, dass der Vergleich „hinke“:http://www.youtube.com/watch?v=HoMAtAelJXE&feature=related. Bekommt er jetzt einen Privatpsychologen ? Gibt es vorbeugendes Krisengespräch mit den Eltern, ob dieser Emotionslosigkeit des Jugendlichen ? Wird wenigstens die Festplatte durchsucht? Oder kriegt er nur eine schlechte Note, weil er immer noch nicht verstanden hat, was miteinander verglichen werden darf und wo das *no go* anfängt. ?
16. März 2009 um 11:15 AM
Danke dir, diesen Combat – Aspekt hatte ich noch gar nicht berücksichtigt.
Aber immerhin möchte unsere Bundeskanzlerin die Kontrollen der „Verschlusssicherheit für Haus- und Hofwaffen“ verstärken. Hohn und Spott.
Sicher hatte sie Waffeln gemeint und ist besorgt um unsere Volksgesundheit im Hinblick auf Adipositas und Diabetes mellitus, weniger die ante mortem Probleme hervorgerufen durch eine Berettadublette
16. März 2009 um 9:34 PM
Es sind übrigens Gewaltvideospiele schuld. Nur daß das hier auch nochmal gesagt wird; man kann das ja nicht oft genug betonen.
16. März 2009 um 11:33 PM
Genau! Und Haschischspritzer! Ups … falsche Empörungswelle 😮 *switch*
16. März 2009 um 11:38 PM
Ich glaube, an allem ist Mutti schuld! Falsch verstandener Feminismus hält sie derzeit noch aus der Schußlinie. Als Mann weiß ich…: Wenn einem je im Leben der Gedanke kommt, an einem schönen Amoklauf teilzunehmen (New York Amok, Hawaii Tri-Amok, Karstadt-Herbst-Amok etc.), dann wegen Mutti! Mutti treibt Männer in den Wahnsinn! Mutti Merkel unterdrückt diese Wahrheit wohlweislich!
17. März 2009 um 10:13 AM
lol….Merkeline ist doch gar keine Mutti.
17. März 2009 um 10:22 AM
Die Mutti der Nation!
19. März 2009 um 2:26 PM
Ich dachte, mit diesem Ährenname wäre nur die olle Schachtel Meysel gemeint.