Arnold Winterseels Jour fixe: Virtuelle Freundschaften
PERSONALDEBATTEN, SCHWULE SÄTZE, NETZ-FREUNDSCHAFTEN
Gestern hatten Fredy Asperger und ich wieder jour fixe bei unserem alten Traurigkeitslehrer Dr. Arnold Winterseel. Fast alle andern waren schon da, als wir ankamen: Miss Cutie, Oma Hager, die Aquavitzwillinge, Sven-Aaron Mangold und Alt-Lyriker Anatol „Na-toll!“ Blankenvers begrüßten uns mit beiläufigem Nicken oder Zuprosten, die anderen waren gerade mit Rauchen beschäftigt oder feilten mit nach innen gerichtetem Blick an ihrem Diskussionsbeitrag. Es herrschte nämlich schon wieder dicke Personaldebatte, zum Aufwärmen. Gewürdigt wurden dabei vornehmlich erstmal, pietätshalber, unsere Verluste: gerade Verstorbene wie die bundesverdienstkreuzverdächtige Sozial-Nutte und Kult-Domina Domenica; junge, aber leider trotzdem Hingegangene („Deichkind“-Produzent Sebastian Hackert); oder aber in gesegnet-biblischem Alter frisch Verblichene wie Schnaps-Tycoon Friedrich Berentzen aus Haselünne, den legendären Erfinder des Apfelkorns. Der hieran anknüpfend sich assoziierende Geschmacksdissens brachte das Thema Angewidertsein aufs Tapet.
Darf man denn überhaupt von bestimmten Menschen angewidert sein? Natürlich. Der Satz „Du! – wiii…derst mich an!“, im Modus abgrundtiefer Verabscheuungsgrazie hinaus-, oder besser herabgeschleudert auf den derart mit Anathemata Besudelten, gehört zu den pikantesten Preziösen der erotologischen Beziehungstrennungsdramaturgie! Man erprobe das ruhig. Er eignet sich für Auseinandersetzungen am WG-Küchentisch ebenso wie für das intime Beziehungsdramolett in der weißen Ledersitzgruppe: „Weißt du was? – – Du… du… wiii…derst mich an!“ Und Punkt. Erbittertes, würgendes, eben, wie gesagt, angewidertes Schweigen. Verbrannte Erde, zerschnittenes Tischtuch. Bzw. Laken, denn, keine Frage, gewiß, daß dieser Satz eine schon beinahe tödliche Wirkung erst in der Zweisamkeit des einst einvernehmlich geteilten Boudoirs entfaltet. Wer sich gerade nackend, seine gesammelten Unzulänglichkeiten und Sportversäumnisse den Blicken der Nachtischlampen preisgebend, auf der Bettstatt räkelt und bekommt diesen Satz gewissermaßen direkt zwischen die Beine gedonnert, mit dem ist es erstmal würdetechnisch vorbei. Der zeugt keinen Apfelbaum, pflanzt kein Haus und baut kein Kind mehr in der regulären Herbstsaison, der bleibt lange allein, der wird lange Briefe schreiben oder lesen, doch für die Anwerbung neuer Bettgespielen wird das Selbstbewusstsein erstmal nicht reichen. „Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo/ Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen“ rezitierte Magister Blankenvers mit dem sonor elegischen Timbre des Berufsergriffenen. – Soweit waren auch alle einig; die mehrheitlich schüchtern begehrte Miss Cutie zeigte durch Einschaltung ihrer hinreißenden Wangengrübchen an, daß selbst ihr der Kontext nicht gänzlich fremd war, doch dann zerschnitt ein Widerwort den Konsens: „Also ich finde diesen Satz irgendwie … schwul!“, dekretierte Mangold mit der einschmeichelnd schneidenden Diktion des Eintänzers und Einserjuristen.
Eine heftige Debatte über die Frage „Wieso denn schwul?“ entbrannte, von der ich wegen einer durch Miss Cuties geradezu unanständig wohlgeformten, jahreszeitlich bedingt zartfeinstrumpfbehosten Minirockbeine ausgelösten Konzentrationsstörung nicht viel mitbekam (Freund Fredy Asperger übrigens auch nicht, weil er gedankenverloren versuchte, die auf dem Tisch in Bechern bereitstehenden Salzstangen nach Länge zu sortieren). Das Einzige, was mir noch erinnerlich ist, bestand im auftrumpfenden Argument Sven-Aaron Mangolds, man möge sich doch den Satz „Du widerst mich an!“ einmal von Guido Westerwelle gesprochen denken. Oder noch viel mehr: An ihn gerichtet! Wer zu Herrn Westerwelle (MdB) gezwungen wäre, zu sagen: „Gu-iiido, du … wi…derst mich an!“ – müsse sich derjenige nicht automatisch schwul vorkommen? Irgendwie? Selbst wenn es der öffentlich-rechtlichen Wahrheit entspräche?
Endlich, als die alberne Diskussion der Rasselbande schon rotwangig ins Uferlose auszuufern drohte, trat Dr. Winterseel durch die Tapetentür, wie immer, seiner Marotte folgend, den Kragen seines schwarzen Samt-Sakkos hochgeschlagen, und nahm im Vorlesungssitzmöbel Platz. Als er das Sujet seines Monologes kundgab – „Die paläo-obstake Illusio virtueller Kuscheligkeit in Netz-Communities“ –, spitzten die Aquavitzwillinge natürlich ihre bereits unnatürlich magentafarbenen Ohren: Waren sie doch gerade einem konterrevolutionären Massaker auf einem Internet-Portal entronnen und schmiegten sich nun, ihrer virtuellen Netzfreundschaften entblößt, fröstelnd aneinander.
Wie immer verstand ich nicht jedes Wort von Dr. Winterseel (werde Fredy fragen, der ein fotographisches bzw. audio-tape-mäßiges Gedächtnis besitzt), aber fast wörtlich ist mir noch erinnerlich, was er vom Meisterdenker Peter Sloterdijk über die Anziehungskraft von Internet-Communities an Klugem zitierte:
„Der Rückzug von den anderen, das Alleinseindürfen, das ist die große Errungenschaft des Individualismus. Aber der Mensch ist auch ein Stammeswesen. Diese Netzwerke können beides glücklich vereinen: Man bleibt vom lästigen, vom aufsässigen anderen verschont, und doch ist der ganze Stamm immer anwesend.“
Unter schallendem Gelächter aller wies Winterseel dabei illustrierend auf Oma Hager, die in unserer Mitte, in ihrem Stamm also, über ihrem Täßchen „ChartreuseGrün“-Liqueur eingenickt und somit in perfekter, ja philosophischer Weise anwesend-abwesend war.
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2. März 2009 um 4:58 PM
Handelt es sich da etwa um die Hure des hochverehrten Wolf Wondratschek
(Letzte Gedichte / Anhang 1980) ?
http://www.bild.de/BILD/news/2009/02/15/hure-domenica-niehoff/hg2/wondratschek-ueber-domenica.html
2. März 2009 um 5:05 PM
So ist es. Domenica Niehof (63) starb vorletzte Woche und wurde unter lebhafter Anteilnahme der St. Paulianer auf dem Friedhof Ohlsdorf zu Grabe getragen. R.I.P.
5. März 2009 um 3:26 PM
[…] unbedingt und «irgendwie» zwei Frauen, die eine grosse Rolle in meinem Leben gespielt haben: Domenica (die – wie ich kürzlich aus Duisburg erfuhr – vorletzte Woche gestorben ist) und mir von Wolf […]
10. März 2009 um 7:25 PM
Als Kind pflegte ich nach guten Filmen immer wutentbrannt aufzustampfen, fassungslos, dass ich mit dem Ende da rausgerissen wurde. So ähnlich gings mir jetzt auch… Bitte also untertänigst vehement (*aufstampf*) weiterzuschreiben und nicht vor Seite 697 aufzuhören.
Herzlichen Dank.
11. März 2009 um 2:05 PM
Also, liebe Jou, weil Du bislang die Einzige warst, die mit diesem krausen Zeug etwas anfangen konnte, habe ich Dich, als Sonderpreis, in die nächste Geschichte mit eingebaut! Ich sage nur: „montagskinofähig“….