Homöopathische Musik gegen Winterdepressionen
EISKALT AUF DIE OHREN!
Mir geht, da werd ich der einzige nicht sein, der Winter allmählich auf die Nerven. Die Kälte nistet in den morschen Knochen, macht das Herz schwer und das Gemüt frösteln. Was kann man tun, außer die üblichen Hausmittel (Badewanne, Grog, Bett) in Anwendung zu bringen und ansonsten abzuwarten, ob die Klimaerwärmung noch zu unseren Lebzeiten Deutschland erreicht?
Zumindest in musikalischen Dingen halte ich viel von Homöopathie. Der Erfinder der letzteren, Samuel Hahnemann (1755-1843) fixierte ihr Heilprinzip mit der Formel: similia similibus – Ähnliches (wird) durch Ähnliches (kuriert). Von kalifornischer oder karibischer sunshine-Musik halte ich mich fern, sie würde nur unerfüllbare Sehnsüchte und Begierden auslösen, mich also noch trübsinniger machen. Nein, ich höre jetzt eiseskalte, schneebedeckte, froststarrende Tiefkühlgefühlsmusik, so erkältend, fröstelig und verfroren wie nur möglich: Gleich werd ich achtsamer und dankbarer für die Frühlingsanzeichen, die es ja schon gibt.
Zur Einstimmung beginnen wir mit Henry Purcells Theatermusik (Semi-Oper) zu „King Arthur“ von 1691, genauer der berühmten „Frost-“ bzw. „Zitterarie“ (auch bekannt als The Cold Song) des „Cold Genius“ (Geist der Kälte) aus dem 3. Akt. Sie wird heute gern als Filmmusik eingesetzt, z. B. um die endlose Agonie des Dichters Molière (im gleichnamigen Film von Ariane Mnouchkine und dem Théatre du soleil) nach seinem Blutsturz auf der Bühne zu orchestrieren. In der Arie protestiert der „Geist der Kälte“ energisch – und vor Frost fast ersterbend – gegen das personifizierte Liebesbegehren „Cupid„, das der Kälte mit heißer Leidenschaft Beine machen will:
„What Power art thou,Who from below,
Hast made me rise,
Unwillingly and slow,
From beds of everlasting snow!
See’st thou not how stiff,
And wondrous old,
Far unfit to bear the bitter cold.
I can scarcely move,
Or draw my breath,
I can scarcely move,
Or draw my breath.
Let me, let me,
Let me, let me,
Freeze again…
Let me, let me,
Freeze again to death!“
Zweifellos einer der magischen Barock-Ohrwürmer, die einem nie mehr aus dem Sinn gehen! Um aber die volle Frostigkeit freizusetzen, höre man die Arie gesungen vom überirdischen, mythischen, schon 1983 an AIDS verstorbenen Counter-Tenor (und vormals „singendem Konditor“) Klaus Nomi, dessen bizarrer, vom nahen Tode schon gezeichneter Auftritt in München eine Vorstellung gab, wie Aliens aus einem Paralleluniversum das Barock interpretieren würden.
http://www.youtube.com/watch?v=0Ri8_C5mQx8
Nach dieser herunterkühlenden Overtüre ist man bereit für den ersten Härtetrip in den gnadenlosen Innen-Winter eines schockgefrorenen Herzens. Franz Schuberts „Winterreise“ nach den elegisch-verzweifelten Gedichten Wilhelm Müllers ist der längste, trostfernste, seelenbedrückendste Liebeskummer-Blues der Musikgeschichte. Wer mit House, HipHop und Dancefloor aufgewachsen ist, steht dem romantischen deutschen Kunstlied reserviert gegenüber, klar. Selbst ich tue das. Aber gerade der Distanz muß man dankbar sein – ohne sie und die zuweilen etwas rührenden Reime Müllers, die einen unfreiwillig lächeln lassen, würde man nach Anhören der „Winterreise“ aus dem Fenster springen. Ach, was sage ich: Während! Kostprobe:
Nach ihrer Tritte Spur,
Hier, wo wir oft gewandelt
Selbander durch die Flur.
Ich will den Boden küssen, Durchdringen Eis und Schnee Mit meinen heißen Tränen, Bis ich die Erde seh.
Wo find ich eine Blüte,
Wo find ich grünes Gras?
Die Blumen sind erstorben,
Der Rasen sieht so blaß.
Soll denn kein Angedenken Ich nehmen mit von hier? Wenn meine Schmerzen schweigen, Wer sagt mir dann von ihr?
Mein Herz ist wie erfroren,
Kalt starrt ihr Bild darin: Schmilzt je das Herz mir wieder, Fließt auch das Bild dahin.
Einer der besten Interpreten der „Winterreise“ ist für mich noch immer Dietrich Fischer-Dieskau, vor allem mit Alfred Brendel am Piano.
http://www.youtube.com/watch?v=p0wwoBuMASs
Andere bevorzugen die etwas dramatischere Fassung von Thomas Quasthoff. Ich kann mich nicht entscheiden:
http://www.youtube.com/watch?v=9m3gLgtn0uE
Wer mich fragt, welches wohl mit Abstand das kälteste, weit, weit unter dem Gefrierpunkt operierende Album der letzten 40 Jahre ist, so zögere ich nicht lange: Das ist für mich noch immer „Eskimo“ von The Residents. Ich zähle schon nicht mehr, wieviel ungebetenen, nervenden, nicht gehenwollenden Besuch ich mit Hilfe dieser Platte aus dem Haus bekommen habe. Wem die Scheibe im Player liegt, sinkt die Raumtemperatur im Handumdrehen und rapide um 10, 20 Gard, je nachdem. Seitdem ich die bizarre Band, deren Mitglieder seit 1971 (!) anonym blieben, in Düsseldorf gesehen habe, bin ich den gespentischen Gestalten in Frack, Zylinder und Augapfelmaske verfallen. Wenn ich schon Klaus Nomi als Botschafter aus dem Paralleluniversum bezeichnet habe, was bleibt dann für diese dadaistischen Verzerrungschaoten übrig? Sie wirken wie gerade erst gelandete Aliens from outaspace, die uns zur Begrüßung etwas vorspielen, was sie für unsere Musik halten – die Sache aber nicht wirklich trifft.
„Eskimo“ (1979) ist ein Konzeptalbum, das von den schamanistischen Riten, den dämonischen Ängsten und geisterhaften Zeremonien der arktischen Ureinwohner erzählt und von deren Gesängen, Klängen und Instrumenten inspiriert ist. Eine wichtige Stimme besitzen dabei auch der Eiswind der Arktis, die Robben, der Grönlandwahl und ein in Ekstase-Trance ächzender Schamane. – Bei akuten Depressionen oder dem Besitz einer Wohnung oberhalb des ersten Stocks ist das Album kontraindiziert. Weibliche oder zartbesaitete Hörer sollten zunächst nicht mehr als drei Tracks am Stück anhören. Wer das ganze Album (einschließlich der „Ceremony of Death“) schafft, dem wird danach unser hiesiger Winter als maienluftumfächelte Frühlingswiese erscheinen!
Kostprobe: http://www.youtube.com/watch?v=TjSsdDe-5UU.
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24. Februar 2009 um 7:00 PM
Wenn man Gleiches nur mit Gleichem austreiben kann – auf gehts!!!!! Auf zum EISBADEN!!!!
Das darauf folgende Fieber infolge der Lungenentzündung macht dann auch wieder warm….
24. Februar 2009 um 11:10 PM
25. Februar 2009 um 4:00 PM
vielleicht hilf mir „the bunny boy“, den ich mir heute gekauft habe.
11. März 2009 um 12:18 AM
[…] AUF DIE OHREN […]