Archiv für Januar 2013

Brüderle im Geiste. Ein Gesinnungsaufguss

31. Januar 2013
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Der Mann kann nicht aus seiner Haut! Wie? Kann er doch?

„Deutsche* Mädchen sind unwiderstehlich, der Zauber des Anorganischen… Viele Schmerzen sind besser als einer.“

Samuel Beckett, Brief an Mary Manning Howe, 30. 8. 1937

In meinen Kreisen, die freilich recht kleine Kreise sind, die von weitem eigentlich mehr wie Punkte aussehen, sehr, sehr wenige Punkte überdies, eigentlich kaum zu erkennen oder überhaupt der Rede wert, in meinen Kreisen also gilt es neuerdings als de la mode und unfein, sich über die allobwaltende Dummheit zu empören. Wie es schon ein alter Tao-Meister der Tang-Dynastie ausdrückte: „Der Jadefisch des Kaisers hat große Macht – aber kann er den Milchsee austrinken, in dem er schwimmt?“ Auch wenn ich den weisen Chinesen gerade erst erfunden habe – er hat doch recht! Mit unseren zierlichen Teelöffeln können wir den See der Imbezilität nicht trocken legen, auch wenn unser See, der mediale Jahrmarkt, nicht mit kaiserlicher Kamelmilch, sondern mit lauter Laberquark gefüllt ist. Der Laberquark hört auf das Unwort des Jahres, das ich ebenfalls frisch gekürt habe. Es heißt „Debatte“ und ist ein Unwort, weil ihm nichts entspricht, denn ein Tsunami im Teetässchen ist keine Debatte, sondern allenfalls ein erzpeinlicher, unbeholfen humpelnder Zwergenententanz ums Goldene Quotenkalb (Bambi)! – Heute ist mir nach großzügigen Metaphern.

Unser lieber, lieber Friedrich Hölderlin, der heuer auch schon 180 Jahre tot gewesen sein wird, erfand seinerzeit eigens einen Griechen namens Hyperion, um ihn vor Abscheu zitternd und total unheilschwanger seufzen zu lassen: „So kam ich unter die Deutschen…“ Diese wiederum kamen dann im Gegenzug nicht besonders gut weg. Die heutigen Deutschen, dicke, rosige Zwerge mit blanken, arglosen Idiotengesichtern sind nicht mehr satisfaktionsfähig und der Kritik von Großlyrikern gar nicht wert. Sie sitzen in ihren Werkstätten und treiben Allotria, zum Beispiel bei der Aktion LiLiPuT („Linke Linguisten Putzen Texte“), wo sie fromme Reinigungslieder summend vor großen Stapeln alter Kinderbücher hocken und, die Zungenspitze zwischen den Lippen, mit roten Wangen und Ohren, daraus das Wort „Neger“ ausradieren, wo immer sie es finden. Die Lage der so ungut Bezeichneten bessert sich bereits stündlich! Wenn sie mit den Fibeln durch sind, radieren sie bei Hesse, Kant und Shakespeare weiter, bis alles reinlich und fromm strahlt wie frisch gewichstes Resopal. Die vom Radieren übrig geblieben Fusseln stecken sie sich in die Stumpfnase. Die Deutschen!

Soll ich, ganz ausnahmsweise doch den Löffel mal ins enorme Gewässer tunken? Ach, was soll die blöde Konsequenz – ich tu’s einfach mal! Leider bin ich so furchtbar träge und aus Sicherheitsgründen schwer entflammbar, so dass ich dem Flächenbrand der „Debatte“ über „Sexismus“ wieder mal meilenweit hinterhaste, mit meinem Gießkännchen voll Öl, aber sagen will ich’s doch; und ich mache beim Schreiben sogar extra ein spitzbübisch-anzügliches Rainer-Brüderle-Gesicht, obwohl die Gattin schon rüberguckt und die Stirn runzelt. Also: Schlimm, schlimm, schlimm! ist der Sexismus alter Männer!

Der Sexismus junger Männer ist allerdings noch tausendmal schlimmer, wie ich aus biographischer Erfahrung weiß und hiermit bekenne: Einst hatte ich unkeusche Gedanken! Als junge, schüchterne Testosterondrohne vulgo glutjunger Pubertäts-Zampel litt ich nämlich unter starker Heterosexualität und daraus resultierender innerer Überhitzung; infolgedessen zog ich sündiger Begierde halber fast täglich Frauen aus, ganz nackend! Im Supermarkt, im Schützenfestzelt, am Freibadstrand, sogar auf dem Schulhof! Meine Phantasie war unersättlich, machte vor nichts und niemandem halt und wäre sexuell äußerst belästigend gewesen, hätte irgendjemand etwas davon mitbekommen (z. B. Mutti!), zu mal ich ein schlampiger Sexist war, der die Damen hinterher nicht mal wieder anzog, sodass sich achtlos beiseite geschobene, traurig verkrunkelte und zerknitterte Kittelschürzen, Dirndl und Business-Kostüme in beträchtlichen Haufen unter meinem Herrenhormonsofa sammelten. Ekelhaft! Mach das mal jemand weg da!

Später arbeitete ich hart an meiner Kultivierung, weil man mit plumper Anmache kaum das Herz intelligenter Frauen gewinnt, um die es mir aber kapriziöser Weise meist zu tun war. Von anderen Körperteilen ganz zu schweigen. Zwar heißt es: „Die Einfältigen erlangen das Himmelreich“, aber das ist, wie die meisten biblischen Weisheiten, stark mit Wunschdenken durchsetzt. Wie es der Zufall will, heißt die derzeitige Debatten-Weinkönigin Laura Himmelreich, ein Name wie von Thomas Mann oder Heinrich Böll erfunden, den beiden ungekrönten Königen übertrieben gebutterter Namenserfindung.

Frau Himmelreich trifft also nachts Herrn Brüderle an der Bar, wo er sich nach einem 15-Stunden-Politiker-Arbeitstag ein paar Gläser Wein gönnt. Ich gönne da durchaus mit. Und? Sagt sie vielleicht: „Trink, Brüderle, trink!“? Das wäre wohl zu nahe liegend. Stattdessen ranzt sie ihn aufs impertinenteste und altersrassistischste an: „Wie fühlt sich das an, in Ihrem Alter (!) noch (!) Hoffnungsträger der Partei zu sein?“ Was soll ein älterer, in Würden ergrauter, soignierter Herr auf so eine scheißblöde Anmache entgegnen? Vielleicht: „Und wie fühlt sich das an, unbedarft, weiblich, blond, frech und indezent zu sein?“ Tja, ich sollte sein Berater werden! Stattdessen zieht er sich leider, möglicherweise sind seine Wachsamkeit und sein Stilgefühl vom Wein etwas erodiert, mit verrutschten Halbanzüglichkeiten aus der Affäre. Was? Was Halbanzüglichkeiten sein sollen? Dumme Frage. Noch nie jemand halb angezogen gesehen?

Bedauerlicherweise zieht er sich damit gar nicht aus der Affäre, der Brüderle, sondern stolpert geradewegs in eine. Öffentlich! Mit Frau Himmelreich! Und mit zigtausenden weiterer Opferfrauen, die twitterhaft aufschreien, weil sie unter uncharmanten Männern und deren Flirt-Defiziten gelitten haben. Debatte! Debatte! Die Deutschen und der Sexismus! Ich würde mich, angesichts derartiger Hysterie, gern unter einer geschwätzabweisenden Burka verstecken! Und durchs Gesichtsgitter „Entschuldigung! Entschuldigung!“ greinen; andererseits beschleichen mich klammheimlich mitfühlende Solidargefühle. Wir sind halt Brüderle im Geiste. Und, ach, bei der Gelegenheit: Darf man eigentlich noch „Frauen“ sagen?

* Im Original heißt es bei Beckett: amerikanische Mädchen, aber das ist ja wohl kaum weniger sexistisch!

 

 

 

 

 

 

Lerm und Geräusch. Plus 1 Hobby

23. Januar 2013

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Ins Fenster gucken (Künstler und Fotograf sind mir leider unbekannt)

Irgendwo, ich nehme an „im Netz“, hat man nun jüngst ein Museum ausgestorbener oder vom Verschwinden bedrohter Geräusche aufgemacht. Dorthin kann man am Sonntagnachmittag das zukunftsfrohe, aber erfahrungsarme und vielleicht widerstrebende Jungvolk hinschleppen, um ihm vorzuführen, wie die analoge Antike geklungen hat: Das Rattern des Super8-Projektors, das Schnurren der Telefondrehwählscheibe, das feenhafte Wispern und Quietschen vorspulender Musikkassetten, das Klappern der Gabriele-Schreibmaschine von der Firma Adler usw. Herrlich!  Man wird wieder richtig jung! Obwohl, jung ist man ja eh, zumindest inwendig. „Das Ich altert nicht“ – das hat eine kluge Frau mal gesagt, Susan Sontag, Hannah Arendt oder Hertha Däubler-Gmelin, ich erinnere mich nicht mehr so gut. Die Frage ist natürlich: Wie jung ist dieses unverwüstliche innere Ich? Trägt es kurze Hosen und hat noch immer Angst vor der Mathe-Arbeit? Oder ist das Ich schon etwas weiter, zieht saugend an einer Haschisch-Zigarette und greint weinerlich: „Ich MERK überhaupt GAR nichts…“? Und ist prolongierte Infantilität überhaupt etwas Gutes? Die einen sagen so, die anderen so, oder sie werfen das Problem auf, ob forever young eigentlich auch bedeutet, dass man sozusagen konstitutiv zu den Ewiggestrigen gehört. Das möchte man ja nämlich nicht.

Andererseits hat Gestrigkeit einen unleugbaren, unverwüstlichen Charme, wovon mir meine fast neunzigjährige Nachbarin erzählte, zum Beispiel aus der Frühzeit des Telefonierens auf dem Lande: Wenn in ihrer Jugend ein Gespräch anstand, kam ein Bote des Bürgermeisters auf dessen Dienstklepper angeritten und kündigte das alsbaldige Eintreffen eines Anrufes an, worauf man sich gemächlich zum Postamt verfügte, um dort von der Vermittlung eine Kabine zugewiesen zu bekommen, in der man gespannt auf das Klingeln des ungefähr fünf Kilo schweren Apparates wartete. Man darf gewisslich davon ausgehen, dass die anrufende Person dann weder „Hi, was machsn nachher so?“ oder „Ich sitze jetzt noch in der Bahn“ sagte, sondern etwas Wichtiges zu melden wusste, was sie sich zuvor vorsichtshalber auf einer Serviette notiert hatte, und zwar mit Füller!

Aufgrund der wohlerwogenen Seltenheit solcher Fernmündlichkeiten hatte ein jeder hinreichend Zeit für erbauliche Selbstgespräche, die das Ich trainieren und jung halten. Bushaltestellen waren noch Orte mitmenschlicher Begegnung, an denen mittels verstohlen gewechselter schwärmerischer Blicke zarte Bande zum anderen oder meinetwegen ruhig auch eigenen Geschlecht geknüpft werden durften. Heute starrt alles hypnotisiert aufs blassblau blinkende Handy und vereinsamt dabei, sitzt dann abends allein in der Küche und löffelt miese Fertiggerichte von Unilever mit tausend chemischen Zusätzen, von denen man eklige Allergien bekommt. Ruft man wo an, um sich auf ein Bier zu verabreden, heißt es: „Nee du, tut mir leid, heute geht schlecht, ich will mit der Gesine und dem Tobias die neue DVD mit Geräuschen aus den 80ern anhören!“ Hätte man sich doch beizeiten auch so ein Hobby zugelegt!

Meines ist, vor allem in der Winterzeit, die hierzu besonders viel Gelegenheit bietet, das Glotzen in anderer Leute Wohnungen. „Pfui Teufel, du Spanner“, schallt es mir entgegen, „das ist doch kein Hobby, das ist eine Perversion!“ Aber ich glotze keineswegs aus sexuellem Interesse, es ist mehr so ein Zwang, der wahrscheinlich aus meiner im tiefsten Unbewussten wurzelnden Überzeugung resultiert, das Leben der anderen müsste doch immerhin wenigstens etwas interessanter sein als mein eigenes. Natürlich ist das nur selten der Fall, was mich dann wiederum beruhigt und tröstet. Am liebsten schaue ich daher durchs Fenster Nachbarn beim Fernsehen zu, oder beim Telefonieren, aber bitte übers Festnetz. Das könnte ich stundenlang machen! Leider ist es dazu draußen zu kalt. Das Geräusch meiner klappernden Zähne stifte ich dem Museum.